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Flugexperimente – Eine paradoxe Passage


Eine Gondelbahn liefert den Einstieg in die Arbeit Flugexperimente, aber sie wird nicht als Gegenstand ästhetischer Vision inszeniert, sondern organisiert die Perspektive eines Blicks auf das Soziosystem des Urlaubsortes Wagrain im Salzburger Land. Dieser Blick richtet sich also auf den Kontext, in dem die Bergbahn ein Element darstellt, und aus dem heraus sie selbst erst entstanden ist.
Würde man nun bei einer Fahrt in der Gondel des Flying Mozart im Rahmen der Flugexperimente für die Tatsache sensibilisiert werden, dass die konkrete Entwicklung, die zu dem heute real existierenden Wagrain geführt hat, auch anders hätte verlaufen können – z.B. langsamer, wieder rückwärts oder in eine ganz andere Richtung – dann würde eine solche Sichtweise auch implizieren, dass die Gondelbahn, in der man auf diesen Gedanken gekommen ist, ebenfalls unrealisiert hätte bleiben können. Würde man dann aber nicht selbst plötzlich haltlos in der Luft hängen, insofern sich die stabile Grundlage der eigenen Vision in eine nur virtuelle verwandelt hat?
Pia Lanzingers Arbeiten operieren mit Vorliebe im Magnetfeld derart subtiler Paradoxien, weil von ihnen aus die Welt, in der wir uns befinden, als ein Konstrukt erkennbar wird, das nicht zuletzt von Beobachtungsprozessen und ihrer jeweiligen Logik abhängig ist. Natürlich sind wir permanent zur Aufrechterhaltung unserer Existenzbedingungen gezwungen, Paradoxien zu vermeiden, aber erst die Einsicht in die Unentscheidbarkeit der jeweils richtigen Antwort auf dieses Erfordernis setzt die Möglichkeit zu einem souveränen Umgang mit Sein und Werden frei.
Und auch wenn die Beschäftigung mit Paradoxien weit in die Philosophiegeschichte zurückreicht, scheint doch gerade unsere Epoche dadurch ausgezeichnet zu sein, den Umgang mit Phänomenen und Logiken, die nicht ins klassische Bild homogener Ordnung passen, zu einer alltäglichen Herausforderung werden zu lassen. So gelingt es Pia Lanzinger immer wieder, auch im Rahmen vorgegebener Thematiken und Problemstellungen gleich an Ort und Stelle Zusammenhänge zwischen scheinbar trivialen Einzelheiten herzustellen, die – einmal genauer betrachtet – merkwürdig und irritierend genug sind, um das Vorurteil einer selbstverständlichen und dementsprechend langweiligen Ordnung der Dinge aufzulösen.
Für das Projekt in Wagrain – einer Gemeinde, die durch ihre heute nahezu ausschließliche Funktion als Urlaubsort gekennzeichnet ist – bot sich an, das System des Tourismus am konkreten Fall zu problematisieren. Besonders interessant schien dabei die trotz aller Beschönigungen scharf gezogene Grenze zwischen ”Gastgebern” und ”Gästen”, weil hier die Künstlerin selbst, die temporär vor Ort arbeitet, auf beiden Seiten vorkommen, und damit leicht eine paradoxe Rolle einnehmen kann. Einerseits stehen KünstlerInnen auf seiten der Gäste, denn sie kommen von anderswo, und nehmen so wie diese standardisierte Urlaubsangebote in Anspruch. Andererseits weist ihre Profession mit der der touristischen Branche eine strukturelle Verwandtschaft auf, aus der heute zunehmend eine kooperative Verbindung geworden ist, insofern es um eine planmäßige Erweiterung des touristischen Angebots in Richtung auf kulturelle und speziell künstlerische Attraktionen geht. Die Paradoxie, dass das Ziel künstlerischer Attraktion sich nur erfüllt, wenn sein instrumenteller Charakter verhüllt bleibt, wird im Normalfall durch seine Mythisierung überblendet. In der klassischen Form sieht das etwa so aus, dass das geniale Künstlersubjekt angesichts der Naturschönheiten eine beträchtliche Dosis Inspiration abbekommt, und diese getrieben von dem Wunsch nach Expression in einem Kunstwerk manifestiert.
Die Bezeichnung Flying Mozart für eine Bergbahn dürfte allerdings hinlänglich belegen, dass das klassische Schema an Bedeutung eingebüßt hat und heute durch das Spektakel – wenn nicht vollkommen ersetzt, so doch zumindest unterfüttert werden muss. Das Spektakel seinerseits löst den Mythos nicht auf, sondern konserviert ihn durch eine Steigerung des medialen Aufwands zu seiner Hervorhebung und Bekräftigung.
Pia Lanzingers Vorgehensweise gibt diesem Modell samt seiner progressiven Variante eine entscheidende Wendung: Die systematische Stelle, die im konventionellen Modell dem Künstlersubjekt selbst vorbehalten bleibt, bevölkert sie in ihrer Wagrainer Arbeit mit den Stimmen der BewohnerInnen. Deren diskursive Linien oszillieren zwischen ideellen und pragmatischen Motiven, und binden so den klischeemäßig versprochenen und serienmäßig durchgeführten Höhenflug an die Tiefe und Breite lebensweltlicher Komplexität zurück. Der formale Ablauf der Flugexperimente unterstreicht diesen Rückbezug auch noch dadurch, dass die Fahrt in der Gondel erst dann endet, wenn diese wieder zu ihrem Ausgangspunkt, der Talstation innerhalb des Urlaubsortes, zurückgekehrt ist.
Die Berg- und Talfahrt bildet demnach eine Passage, die nicht aus dem Ort und seiner banalen Realität – stellvertretend für die banale Realität, aus der der Tourist in diesen Ort geflohen ist – hinaus in eine vermeintlich transzendente Welt führt, sondern stellt eine Art von Wiedereintritt dar, der es dem Passagier ermöglicht, den Urlaubsort und die Rolle, die er selbst darin einnimmt, mit anderen Augen zu sehen.
Selbstverständlich klingen in den Darstellungen der ”Einheimischen” die bekannten Sorgen und Beschränkungen einer wirtschaftlich von globalen Entwicklungen bestimmten Existenz ebenso an, wie Begehren und Trauer in Bezug auf eine vermeintlich verlorene Ursprünglichkeit, und die Sorge über die Risiken weiterer Entwicklungen; und selbstverständlich kommt auch der ökonomische Sinn jener Fraktion der Bevölkerung von Wagrain zum Ausdruck, die in den Bergen ein Kapital sieht, das noch nicht wirklich ausgeschöpft ist. Aber diese unterschiedlichen Motive münden hier nicht in eine eindeutige Botschaft, sondern bilden als heterogene Züge einer in sich gebrochenen Biosphäre eine spezielle Mischung, die als solche Faszination ausübt.
Aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende wird berichtet, dass die damals aufgekommene Erweiterung des Tafelbildes zum Panorama überwältigende Wirkungen zeitigte: regelmäßig fielen BetrachterInnen in Ohnmacht angesichts einer Perspektive, die kein objektives Zentrum mehr aufwies. Später gelangte ein anderer sensorischer Effekt zu massenhafter Verbreitung, der noch heute unser Alltagsleben dominiert: die Fahrt im Auto, auf einen Fluchtpunkt zu, im Rausch der Beschleunigung. Was hier (und übrigens auch schon vor dem Auto beim Skifahren) an die Eindimensionalität einer Ordnung gebunden ist, die zwischen zwei Extremen eine klare Mitte anpeilt, wäre dort, im panoramatischen Taumel, angesichts seiner Parallelität vieler möglicher Richtungen als multidimensionale und polyvalente Struktur zu beschreiben. Die Gondelbahn partizipiert an beiden Modi der Umsetzung von Zeit und Raum in Bewegung, wobei Pia Lanzingers Flugexperimente klar das Wahrnehmungsschema der zweiten Form favorisierten.
Es ist der Zustand des Schwebens zwischen Urlaub und Alltag bzw. Höhe und Tiefe, das dieser Bewegungsform jenen spezifisch irritierenden Charakter verleiht, der die normalen Grenzen touristischer Ordnung dekonstruiert. Wenn aber – wie es die Arbeiten der Künstlerin an den verschiedensten Orten demonstriert haben – nicht-normale Ereignisse in einer Umgebung vorkommen können, die geradezu direkt vor uns und mitten im Alltag beginnt, dann folgt daraus allerdings der für uns gewohnheitsmäßige TouristInnen unbequeme Verdacht, dass wir Auto und Flugzeug stehen lassen müssten, um noch Abenteuer zu erleben. Das schließt zwar nicht die Neugier aus, mit vorgegebenen technischen Medien zu experimentieren und das perspektivische Potential in solchen unbekannten Verwendungsweisen auszuloten. Es stellt aber dennoch die Orientierung an den mit der herrschenden Technologie eng verbundenen Prinzipien von Homogenität und Beschleunigung zur Disposition, die unsere Vorstellungen von gesellschaftlichen Entwicklungen in immer noch zunehmendem Maß zu beherrschen scheint.
Die Flugexperimente bieten dazu ein Gegenmodell an, denn sie führen die exemplarische Möglichkeit vor, in eine Gondel zu steigen, ohne der Logik des Tourismus zu gehorchen.

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Michael Hauffen

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