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Jef Geys - Umfunktionierung der Kunst


Geht man davon aus, dass Kunst ihre Intensität aus den (geglückten) Operationen bezieht, wo sie sich selbst aufs Spiel setzt und dabei neue Perspektiven gewinnt, dann kann Jef Geys als beispielhafter Künstler gelten. Sein Interesse war von Beginn an nicht darauf gerichtet, die regulären Erwartungen des Kunstsystems zu erfüllen, auch wenn diese Innovationen und Überraschungen in einem gewissen Rahmen einschließen. Es fehlt aber in seiner Entwicklung auch völlig jene Attitüde der Ignoranz gegenüber den kommunikativen Prozessen, die Kunst als soziale Konstruktion erst ermöglichen und ihre Entwicklung grundsätzlich unabhängig von den „AutorInnen” verlaufen lassen, mit deren Namen Werke adressiert werden. Das Kalkül, das den Namen Geys trägt, schafft diesen Sprung aus dem Kraftfeld repräsentativer Subjektivität durch ungewöhnliche Beweglichkeit und programmatische Mehrdeutigkeit, vor allem wenn es darum geht, verschiedenste Diskurse und Strukturen miteinander in Verbindung zu setzen und die dabei sich ergebenden Interferenzen auszunutzen. Sollte man versuchen, die Einheit dieser Vorgehensweise zu benennen, die Klammer, die auf den ersten Blick vollkommen heterogene Ansätze und Interventionen zusammenhält, dann könnte man es als den Versuch charakterisieren, ein modernes Leben jenseits dessen zu konturieren, was als mächtiges Dispositiv heute seinen Schleier über sämtliche sozialen Systeme (jedenfalls in der westlichen Welt) auszubreiten scheint: nämlich die Normalität.
Der Anfang dieser Auseinandersetzung fällt in die frühen 60er Jahre, wo sich unter dem Signum des Modernismus eine formale und radikal reduktionistische Kunst zu etablieren begonnen hatte. Geys findet da nur bestätigt, was Duchamp bereits Anfang des Jahrhunderts für die Malerei konstatiert hatte, nämlich ihre bloß noch „retinale” Wirkung. Aber auch die gerade aufkommende „Schule” des Nouveau Realisme, die sich auf Duchamps ironisches Spiel mit den konventionellen Voraussetzungen der Kunst stützen konnte, gewinnt für ihn keine ausschließliche Bedeutung. Eher schon könnte man seine ersten Konzepte in eine Linie mit den institutionskritischen Ansätzen eines Daniel Buren oder Marcel Broodthaers stellen; vor allem von ersterem unterscheidet ihn aber die klare Abgrenzung vom Primat selbstreferentieller Gesten, auch wenn deren Unternehmen, die eigenen Voraussetzungen zu dekonstruieren, dem Bann der Konvention einen nachhaltigen Knacks beizubringen vermochten. Zum Ausgleich solch eher intellektualistischer Spiele mit der paradoxalen Logik des Kunstsystems, wendet sich Geys schließlich der frühen russischen Avantgarde zu und greift deren Programm einer Konnexion verschiedenster moderner Entwicklungen ästhetischer, theoretischer und pädagogischer Praxis auf, das sich an einem humanistischen Ideal der Verbesserung alltäglicher Lebensbedingungen orientiert. Seine Bezugnahme auf diese Tradition beschränkt sich jedoch keineswegs auf eine Wiedererweckung historisch gewordener Utopien, geschweige denn der Kultivierung ihrer Symbolik, sondern wird auf die aktuellen sozialen Gegebenheiten im Westeuropa der 60er Jahre zugespitzt. Geys beabsichtigt denn auch, sich hier und jetzt ins Geschehen einzumischen, und das bedeutet für ihn, die Dynamik des sozialen Fortschritts dort herauszufordern, wo sie noch nicht durch inzwischen optimierte Konditionierungstechniken kanalisiert worden ist.
Aus diesen Bezügen und Momenten resultiert bereits eine breite Palette an Anknüpfungspunkten, über die Geys nach und nach souverän verfügen wird. Aber nicht genug damit, greift er noch ein weiteres Element auf, das ihm aufgrund seiner Perspektive gleich doppelt begegnet: nämlich das Phänomen der Pop Art, das zu diesem Zeitpunkt nicht nur eine große Reform des offiziellen Kunstsystems markiert, sondern auch Einfluss auf die Alltagskultur nimmt. Diese Welle eines um Würde und Konventionen unbekümmerten Umgangs mit den Zeichen einer Kommunikation, die zunehmend von massenmedialer Anonymität geprägt ist, greift Geys sofort auf, um jedoch auch ihr die fremde Note einer unreinen Kunst zu geben.
Weil sich seine Objekte nicht zu einer homogenen Form schließen, kann die Assoziation offen gehalten werden in Richtung verschiedenster Ebenen der Erfahrung und ein Bewusstsein der Komplexität psychischer und sozialer Strukturen im Prozess der Wahrnehmung freisetzen. Auf Inhomogenität achtet Geys auch in Bezug auf sein Œuvre als Ganzes: den systematischen Überblick über sein Werk hat er offenbar sabotiert, wo immer er dazu gedrängt wurde. Die Folge: es gibt weder einen systematischen Katalog, noch so etwas wie ein zentrales Hauptwerk, an dem sich eine Art strategisches Generalkonzept ablesen ließe. Was diese Resistenz vor allem bewirkt, ist für jeden Beobachter die neuerliche Aufgabe sich mit einer heterogenen Menge von Produkten, Aufzeichnungen, Projekten und Aktionen in ein Verhältnis zu setzen. Deren die Sinne ebenso wie Wissen und Erfahrung herausforderndes Potential könnte durch die übliche kunsthistorische Schematik und ihre Riten nur verwischt werden. Der Mangel an offizieller Sanktionierung lässt der spontanen Betrachtung also noch alle Möglichkeiten, ohne deren Legitimität herabzusetzen.
In diesem Sinn soll hier ein Zugang in dem Bewusstsein konstruiert werden, dass er auch anders sein könnte. Die Arbeiten, die im Kunstverein München zu sehen sind, dienen dabei als Ansatzpunkte. Es handelt sich um drei Knoten eines mehrdimensionalen Netzwerks, die geeignet sein dürften, viele der verschiedenen Verbindungen und Verzweigungen (oder Brüche) zu thematisieren, über die es Geys gelungen ist, einen eigensinnigen Impuls Systemgrenzen sprengender Kommunikation in die aktuelle Gegenwart zu transferieren.

Semiologie der Samensäckchen

Die Serie von inzwischen 39 Tafeln (Grote Zaadzakjes, 1962ff.), zeigen jeweils die Vorderseite eines Samensäckchens – eines jener Tütchen mit Saatgut, die es überall zu kaufen gibt. Diese farbigen Abbildungen und ihre grafische Ausgestaltung werden von Geys auf große Platten (140 x 80 cm) übertragen und durch die botanische Bezeichnung (in wechselnden Sprachen plus dem korrekten lateinischen Ausdruck) der jeweiligen Art auf einem separaten Tableau ergänzt. Seit 1963 fügt Geys der Serie jährlich ein weiteres Exemplar hinzu, wobei er aus dem gerade verfügbaren Angebot willkürlich eine Sorte herausgreift. Neben Blumenbildern finden sich auch einige Gemüsesorten.
Vergleicht man die Arbeiten mit einer berühmten Serie von Andy Warhol (Flowers, 1964), dann lassen sich eine Reihe von Abweichungen beobachten, die Geys’ Konzept klar konturieren. Das Abstellen auf Differenz ist dabei keine beliebig verwendete Methode, denn es tritt auch in Geys’ eigenen Äußerungen als explizit formuliertes Verfahren auf. Er spricht von Mimesis als einer Weise, sich zur offiziellen Kunst in ein Verhältnis zu setzen, und sie dabei zugleich auf ihre Rahmenbedingungen hin abzuklopfen beziehungsweise mit einer Alternative zu konfrontieren. Indem er in seinen Kommentaren Mimesis von Mimikry ableitet, unterstreicht Geys zudem den strategischen Charakter eines Spiels mit den Zeichen der Macht.
Zunächst fällt natürlich auf, dass die Samensäckchen den naturalistischen Zug von Pflanzenbildern brechen, indem sie den Kontext des industriell hergestellten und vertriebenen Produkts mit implementieren, auch wenn die Namen der Herstellerfirmen ausgefiltert bleiben. Demgegenüber setzt sich bei Warhols „Flowers” trotz aller pop-art-mäßigen Schematisierung das Naturphänomen der aufleuchtenden Farben dominant durch, wobei die ursprünglich biologische Funktion dieses Phänomens durch den symbolischen Wert einer Ökonomie der Verschwendung überlagert wird. Auf dieser Linie kann dann sogar noch die mediale und kommerzielle Verbreitung der Bilder als überhistorischer Ausdruck des Begehrens erscheinen.
Der Naturalisierung sozialer Symbolik und einer Kunst, die der Verklärung moderner Zeichensysteme dient, steht mit den Samensäckchen eine Strategie der Desavouierung und Relativierung gegenüber. Der Anschein von Erhabenheit, den die selbstlose Verausgabung leuchtender Energie ausstrahlt, wird mit den trivialen Beschäftigungen einer breiten Bevölkerung konfrontiert, für deren Selbstdarstellung das Sublime nicht verfügbar ist und konsequenterweise solange suspekt bleibt, bis es in erschwinglicher Massenreproduktion angeboten und ein Stück weit vom Sockel geholt wird. Das heißt aber nicht, dass in den unteren Schichten der Gesellschaft keine eigene ästhetische Urteilskraft vorhanden wäre. Nur gehorcht sie anderen Regeln und geht von anderen Wertregistern aus. Der eigene Garten oder die Pflanzen in der häuslichen Umgebung nehmen in diesem anderen Sektor ästhetischer Kommunikation einen höheren Stellenwert ein.
Was von der Warte der Hochkultur als unrein, degoutant oder womöglich sogar widernatürlich abqualifiziert wird, gibt sich aus der Distanz betrachtet als andere Kultur zu erkennen, und relativiert, wenn sie erst einmal in den Blick gekommen ist, auch den Anspruch der Ersteren auf Universalität. Denn der kann nur solange aufrechterhalten werden, wie er verkennt, dass er auf Grenzen basiert, die auch eine Außenseite bzw. einen blinden Fleck haben.
Wie bereits erwähnt, fertigt Jef Geys seit 1963 Jahr für Jahr ein weiteres Bild dieser Serie an. Auch Warhol hat in Serien gearbeitet und den Prozess der mechanischen Reproduktion dabei thematisiert, wodurch die Brücke zwischen Museum und der Kultur massenhaften Warenkonsums enorm verbreitert worden war. Die strenge Regelmäßigkeit, mit der Geys seine Serie fortgesetzt hat, bringt allerdings noch eine andere Referenz ins Spiel. Der Jahresrhythmus verweist auf die Chronologie von Prozessen einer höheren Abstraktionsstufe und gibt der Arbeit eine streng konzeptuelle Note. Ein Vergleich mit den über lange Jahre penibel ausgeführten Konzepten eines On Kawara drängt sich auf. Aber auch hier soll die Bezugnahme gestatten, einen Unterschied zu machen. Die Samenpäckchenbildern und ihr banales Motiv stehen der rein formalen Operation, die ein globales Ordnungssystem ritualisiert, als unreine Kompaktkommunikation gegenüber, und stellen deren „strategischen” Führungsanspruch in Frage. Die KonsumentInnen von Samen mögen zwar weniger geradlinig organisiert sein und weniger Bereitschaft zu globaler Mobilität mitbringen als jene Global Players, auf deren Spuren Kawara wandelt, aber man kann ihnen deshalb noch nicht vorhalten, dass sie weniger Klugheit an den Tag legten, wenn es darum geht, den eigenen Vorteil wahrzunehmen.
Andererseits transportieren auch die Samentütchen als Erscheinungsform des modernen Konsums soziale Normen und schleusen sie in die Kommunikation ein. Deren Dekonstruktion nimmt Geys in Angriff, indem er das in ihnen wirksame Dispositiv des eindimensionalen Menschen mit einer multidimensionalen Perspektive konfrontiert. Dazu genügt der ironische Transfer eines einzelnen Elements der Alltagskultur in den institutionellen Raum allein allerdings nicht. Die „Großen Samensäckchen” stehen denn auch nicht für sich allein. Sie sind eher eine Art „mimikryhafter” Zweig, mit dem es einem der Semantik des Museums kritisch gegenüberstehenden Programm gelingen kann, in diesem Fuß zu fassen.

Eine Zeitung überschlägt sich

Die Übernahme des Titels der regionalen Gazette „Kempens Informatieblad” (seit 1970/71) diente Geys von Anfang an dazu, Themen, die den Rahmen der Kunstinstitutionen sprengen, in dem ihm eigenen Stil aufgreifen und langfristig verfolgen zu können. So waren etwa sein Engagement im Zusammenhang mit der Schließung einer größeren Produktionsstätte in der Region seines Wohnortes in den 70er Jahren mit der Logik und der Zeitstruktur musealer Darbietungen nicht kompatibel, was nicht von ungefähr dazu führte, dass Geys in dieser Phase, die sich über einige Jahre erstreckte, dem kommerziellen Ausstellungsbetrieb fern blieb.
Mit dem Weiterführung eines regionalen Blattes (nach dessen Geschäftsaufgabe) erwirbt sich Geys also eine relative Autarkie, und auch hier gewinnt die ästhetische Aneignung des Mediums mit ihren subversiven Aspekten einer Ironisierung trivialer Kultur und der Irritation medialer Codes entscheidende Bedeutung. Darüber hinaus erlaubt ihm die Form einer Zeitung eine weitere Brechung seiner medialen Erscheinung. Neben die Rolle des Künstlers, der seine Aktivitäten dokumentiert, tritt die des Redakteurs, der diverse Beiträge arrangiert, oder die des Forschers, der Zusammenhänge analysiert und Hintergründe recherchiert – ohne dass sich zwischen diesen verschiedenen Rollen eine hierarchische Ordnung bildete. Das erlaubt weitere Spiegelungen und Brechungen auch im Kontext seines „Werkes”. Die teilweise erst nachträglich vollzogene Aufnahme früherer Alltagsaktivitäten Geys’ in die Liste seiner künstlerischen Produkte, hat vermutlich in diesem Prozess der Auffächerung eine weitere Quelle ihrer Inspiration. Das seither zu verschiedenen Gelegenheiten – wie im vorliegenden Fall der Ausstellung im Münchner Kunstverein – erscheinende Medium versammelt jedenfalls regelmäßig auf aktuelle Projekte, Ausstellungen und sonstige Aktivitäten bezogenen Beiträge, pseudo-kommerzielle Anzeigen von Sponsoren und Galerien, sowie reichlich Dokumente aus Geys‘ Archiven, die zwischen Privatleben, Produktion und öffentlichen Auftritten keine Grenze ziehen.
Auch hier wird wieder im Kontrast zur üblichen Struktur von Printmedien klar, was deren Normalität ausmacht, und welche anderen Blickwinkel dabei ausgeschlossen bzw. an den Rand gedrängt werden. Worin besteht „das Normale” und wodurch entsteht der Verdacht einer Sphäre der Homogenität, die sich über alle sozialen Teilsysteme erstreckt, auch wenn diese durchaus mit verschiedenen Codes operieren? Geys’ Antwort auf diese Frage besteht im gezielten Zulassen verschiedenster heterogener Impulse, und das kann eigentlich nur vom Standpunkt einer Beobachtung, die das Normale vom Nicht-Normalen anhand von unterstellten Grenzwerten unterscheidet, als chaotisch und anarchisch klassifiziert werden. Die Vielfalt der Artikel und Bilder, die sich im Informatieblad finden, hat nur auf den ersten Blick mit den vermischten Nachrichten zu tun, die uns in zeitgenössischen Blättern in mehr oder weniger bezugsloser Form geboten werden. Die Sorge um drohende Unfälle, Katastrofen, Krankheiten auf der einen Seite und der Thrill von extremen Leistungen wie im Sport oder extremen Erfolgen und Karrieren auf der anderen Seite, werden dort zusammengehalten durch ein Ordnungsschema, das auf der Gaußschen Normalverteilung gründet. Die Fakten sind um eine gewichtige Mitte herum gruppiert, die den Status quo, den Durchschnitt und dessen Interesse an abgesicherter Homöostase repräsentiert. Die Absicherung erfolgt durch genaue Beobachtung der „Ränder” und durch Maßnahmen der Grenzziehung („Toleranzschwellen”) oder der langsamen Anhebung oder Absenkung der Standards. Insofern Geys durch seine „Informationen” und deren wesentlich abenteuerlichen Zusammenhang den Bann dieser Orientierung am Normalen durchbricht, kristallisiert sich zugleich heraus, dass der Angst vor (und zugleich Sehnsucht nach) Denormalisierung, die dort dominiert – und der universelle oder naturhafte Gültigkeit unterstellt wird – hier, unter der Voraussetzung einer grundsätzlich anderen Perspektive ihre zentrale Bedeutung abhanden kommen kann.
Jef Geys kann die Welt und das Geschehen in ihr vor allem deshalb anders behandeln, weil sein rückhaltloses Vertrauen in ein Potential der kleinen und mittleren Ebenen der Gesellschaft, also familiärer, kommunitärer und spontaner informeller und inoffizieller Zusammenhänge durch Erfahrungen mit entsprechenden Interventionen und Initiativen vielfach bestätigt und vertieft werden konnte. Allerdings hätte die Überzeugungskraft dieser konkreten Utopie ohne gleichzeitige Resistenz oder zumindest Ignoranz gegenüber den „Einstellungen” der Normalität nicht ihre Stärke. Sie begnügt sich nicht damit, von der Norm abzuweichen und durch Überschreitung der von dort aus gezogenen Grenzen einen kurzfristigen Alarm auszulösen. Während es für eine künstlerische Karriere schon genügen würde, einen solchen Alarmeffekt als Mittel spektakulärer Selbstinszenierung zu nutzen – ein Kalkül das umstandslos in die Logik normalitätskonformer Elitenbildung passt – insistiert Geys auf der Sprengkraft eines Modells von egalitärem Austausch, der die Spur eindimensionaler Orientierung verlässt und den spontanen kommunikativen Möglichkeiten an der gesellschaftlichen Basis Aufmerksamkeit verschafft.
Es ist denn auch weniger die krude Mischung von Beiträgen und Bezügen – von Privatem und Schulischem, von Politik und Sex, etc. – die den besonderen Charakter des Kempens Informatieblad ausmacht, als vielmehr die innere Verflochtenheit, die sie als offenes und wachsendes Netzwerk konstituiert. Geys’ Funktion in diesem Geflecht besteht vor allem in der Exploration von möglichen Verbindungen zwischen einer unbeschränkten Zahl von Kontexten, die sich keiner Tendenz zur Spezialisierung oder systemischen Beschränkung beugt. So enthalten schon seine frühesten Interventionen, die in ihren verschiedenen Varianten gelegentlich im Informatieblad dokumentiert werden, immer mehrere Bezugsebenen zugleich, stellen Öffentlichkeit her für politische ebenso wie für symbolische oder ästhetische Thematiken, wobei der Alltag als Ort, an dem diese Verhältnisse akut werden, einen Fokus bildet, der jedoch in Richtung globaler Zusammenhänge niemals abgeschottet wird.
Am eindrücklichsten wird der Kern dieser Strategie vielleicht an Geys Entscheidung deutlich, sich – als er schon eine erste Stufe künstlerischen Erfolges erreicht hatte – nicht, wie es das informelle Gesetz der Künstlerkarriere vorschreibt, in Richtung einer der großen Metropolen zu begeben, sondern sein Aktionszentrum in der Kleinstadt Balen zu belassen, wo er sich als Kunstlehrer im regionalen Umfeld engagiert. Dieses Engagement bildet dann auch einen der bestimmenden Faktoren seiner dezidierten Distanz gegenüber dem offiziellen Kunstsystem als einer tragenden Instanz normierender Macht. Neben dem schon erwähnten Engagement im Zusammenhang mit der Schließung eines größeren Betriebes der Zinkindustrie nahm er vor allem eine Tätigkeit als Kunstlehrer an einer Schule in Balen auf, und fragte von hier aus nach dem, was die Kunst für die weniger privilegierten Teile der Bevölkerung faktisch zu bieten hat. Er beginnt mit Möglichkeiten des Transfers zwischen Schulklasse und offiziellem Kunstsystem zu experimentieren, und diese Aktivitäten in seiner Zeitung zu dokumentieren. Während die SchülerInnen etwa die Gelegenheit erhalten, originale Kunstwerke aus einem Museum auszuleihen und sich damit außerhalb der Vakuums institutioneller Sterilität auseinanderzusetzen, tauchen Resultate diese Austausches später in offiziellen Ausstellungen auf, an denen nun auch einzelne SchülerInnen beteiligt sind, und wirken als Korrektiv in Bezug auf die dort herrschende hermetische Abgeschlossenheit.
Dieser Coup einer parallelen Umfunktionierung würde nicht gelingen, könnte der Name Geys nicht bereits eine Reihe von Ausstellungen in Galerien und Museen aufweisen, weshalb die Belege dafür auch ausgiebig im Informatieblad zwischen anderen Kleinanzeigen platziert werden – nicht zu vergessen die „Werke”-Liste, die Geys stetig weiterführt und ergänzt, und die inzwischen über 300 hartnäckig durchnummerierte Einträge umfasst. Andererseits hätte die Querverbindung zwischen Kunst und Alltag nicht ihre Überzeugungskraft ohne das Feld weiterer brisanter Bezüge, in das sie eingebettet sind. Das fängt schon in der persönlichen Frühgeschichte des Künstlers an, wo er sich als integraler Bestandteil der regionalen Bohème bewähren konnte. Sein spezifisches Talent, kulturelle Entmischungen rückgängig zu machen ließ ihn zum Mitbegründer einer Reihe von Lokalen werden, von denen er zumindest Eines später zum Kunstwerk erklärt hat. Außerdem verbindet ihn seit dieser Zeit eine enge Freundschaft mit einer Hand voll Intellektueller, deren Entscheidungen, sich in Politik, Literatur oder Wissenschaft langfristig zu engagieren, ebendort ihre Wurzeln haben, woraus später neben gemeinsamen Projekten, wie einem Roman, in dem Geys’ mehrdeutige Person im Mittelpunkt steht, vor allem seine gute Informiertheit auf politischer und theoretischer Ebene resultiert.
Die Motive einer Revolte gegen die starren Regeln einer kleinbürgerlichen Vorstellung von Disziplin, die mit ihrem restriktiven Impetus die Dynamik sozialer Entwicklungen zu blockieren drohten, und die mehr als reformistische Idee von einer gesellschaftsübergreifenden Politisierung des Alltags mit der Aussicht auf eine dichte Kopplung ansonsten getrennt voneinander operierender Funktionssysteme, wie Wissenschaft, Ökonomie, Liebe, Pädagogik und Kunst, durchdringen und orientieren unverkennbar bis heute das Programm dieser Position und finden in der von Geys herausgegebenen Zeitschrift ihren signifikanten Ausdruck. Sie sind in ihrer Radikalität durch die inzwischen erfolgte Flexibilisierung der Standards und Bewertungen, die uns heute differenziertere, besser angepasste Spielräume zugestehen als damals, im Kern nicht eingeholt, auch wenn diese Entwicklung mitverursacht war durch den Druck, der in den 60er und 70er Jahren von Seiten der neuen sozialen Bewegungen ausgeübt wurde.
Insofern ist auch die Form von Heterogenität, die das Informatieblad aufweist, mehr als ein nostalgischer Reflex einer „wilden” Vergangenheit. Es hält die Erinnerung an ein radikal anderes Modell gesellschaftlicher Kooperation wach, und stellt damit auch die Frage, wie Alternativen zu den derzeit scheinbar unangefochten herrschenden Vorstellungen globaler Ordnung konstruiert und artikuliert werden müssten.

Das Fenster zur Umwelt

Er dürfte kaum nötig sein, noch weiter zu betonen, dass Jef Geys den gängigen Vorstellungen von der Kunst und ihrer Rolle im sozialen Geschehen äußerst distanziert gegenübersteht. Sein Verzicht auf eine reguläre Karriere als Künstler und die stattdessen vorgenommene Ausrichtung ästhetischer Praxis an den Erfordernissen und Problemen in komplexen Alltagssituationen verdeutlicht das bereits hinlänglich. Für jemanden, der die Partei der „kleinen Leute” (der sozial Unterlegenen) und ihrer vor allem regional ausgerichteten Perspektiven ergreift, fallen Kunstinstitutionen durch ihre Funktion der Normierung und Disziplinierung des ästhetischen Vermögens und seiner repräsentativen Symbole auf. Die Entscheidung, was schön ist und was nicht, wird hier unter dem Diktat von Spezialisten gefällt, die dazu neigen, ihre eigenen Konditionierungen zu verallgemeinern und ihre Wertvorstellungen zu verabsolutieren. Daraus resultieren kulturelle Normen, denen diejenigen, die die Voraussetzung zu einer damit konformen Ausbildung geschmacklicher Register nicht mitbringen, abwerten und sogar regelmäßig zum Eingeständnis ihrer Unsicherheit (oder eine Verneigung gegenüber ihnen weitgehend fremden Schönheitsidealen) zwingen. Geys spricht deshalb von einem Terror des Geschmacks und antwortet darauf mit der Definition seiner eigenen Rolle als der eines „intellektuellen Guerilla” im Kampf mit den Machtmechanismen, die diese „feinen Unterschiede” und ihre repressiven Wirkungen hervorbringen. In seinen Schulklassen dekonstruierte er den Mythos erhabener Werke, indem er sie zu Bezugsgrößen eines kommunikativen Prozesses machte, der für prinzipiell jede Assoziation offen gehalten wurde. Vermutlich lässt sich nur so die restriktive Wirkung kalkulierter Intransparenz aufheben, aus der Mythos und Macht zu einem großen Teil gespeist werden.
Auf der anderen Seite steht Geys’ frühes Projekt der Sprengung des Antwerpener Museums als unmissverständlicher Kommentar der durch es repräsentierten Macht der Institution. Wenn er hiermit den Ausschluss aus dieser Institution selbst herbeigeführt haben sollte, dann bliebe die Frage offen, auf welcher Seite dieser Trennungslinie nun die Kunst ihren legitimen Platz hätte. Jedenfalls hat sich die Kunstinstitution in diesem Fall nicht für eine Leugnung des Künstlers entscheiden können – inzwischen wurden seine Werke von mehreren Museen angekauft. Allerdings kommt es auch immer wieder vor, dass sich eine Institution weigert, die Kritik ihrer Tendenz zur Bildung einer exklusiven Sphäre mit transzendentem Geltungsanspruch zuzulassen. Eines der hierfür aktuelleren Beispiele ist der Entwurf, den Geys für eine Ausstellung im „Magazin” in Grenoble projektierte.
Dem ins Innere einer älteren Industriehalle verpflanzten Neubau à la white cube, dessen von der Halle überdachte Außenseite als "la rue" (die Straße) definiert wird, und die für expansivere Objekte und Wandmalereien gedacht ist, begegnet er mit einem Plan, der diese Simulation eines bereinigten "öffentlichen Raums" aufbricht. Sein Ausstellungskonzept sieht einen in Höhe der Fenster der Halle verlaufenden Steg für Fußgänger vor, und würde damit nicht nur die architektonische Absicht einer Abschottung nach Außen - die übrigens in auffälliger Parallele zur Konjunktur von Shopping-Malls und abgeschlossenen Erlebnislandschaften oder Themenparks steht - wieder rückgängig machen, und den BesucherInnen den Blick aus der Halle hinaus und in die komplexe Struktur ihres urbanen Umfelds ermöglichen würde. Sondern sein Eingriff würde auch ein repräsentatives Modell ästhetischer Exklusion (die häufig mit Autonomie verwechselt wird) als Formation strategischer Verkennung zum Gegenstand der Betrachtung werden lassen. Das Projekt wurde mit der Begründung abgelehnt, es wäre zu teuer, aber wie die ausführliche Dokumentation, die sich über mehrere Ausgaben des Kempens Informatieblad erstreckt, deutlich macht, waren andere dort durchgeführte Ausstellungen nicht weniger kostspielig, und in einer (ebenfalls im Informatieblad protokollierten) öffentlichen Diskussion in Grenoble wurde zudem offenbar, dass die verschiedenen Begründungen der Museumsleitung in sich widersprüchlich sind.
Das Projekt bleibt unrealisiert, eine Vielzahl von Skizzen und Studien veröffentlicht Geys aber in seinem Magazin in mehreren Ausgaben. Neben architektonischen Studien, die etwa eine Verbindung zwischen gotischen Konstruktionsprinzipien, Fachwerkhäusern und der Metallkonstruktion von „Glaspalästen” anschaulich machen, finden sich Studien zur Geschichte der industriellen Besiedelung im Umfeld der Halle in Grenoble, die übrigens von Jean Eiffel entworfen wurde.
Die Installation eines Baugerüstes im Münchner Kunstverein mit Stegen, von denen aus die Besucher der Ausstellung auf die Höhe der Fenster gelangen und von dort die Umgebung in Augenschein nehmen können, hätte ohne den Bezug auf das Projekt in Grenoble sicher nicht seine Brisanz. Der geringere historische Gehalt der von hier aus sichtbar werdenden urbanen Strukturen, wird aber durch einer stärkere symbolische Ausrichtung der Installation kompensiert: Unter den Fenstern stehen die Namen verschiedener Ethnien, die die architektonische Homogenität der Münchner Innenstadt mit der Heterogenität sozialer Gruppierungen konfrontieren, von denen die Mehrzahl schon dem Namen nach, und mehr noch den kulturellen Eigenarten nach unbekannt ist.

Durch den toten Winkel

Es ist also nicht die Antiästhetik eines Baugerüsts im Münchner Kunstverein, mit der die Ausstellung von Jef Geys den Rahmen normalitätskonformer Kunst durchbricht, sondern die ungebremste Reichweite und Vielzahl der eingebrachten Perspektiven, die eine Überwindung von Dispositionen und „Einstellungen” provoziert, welche gerade als „normal” gelten. Und damit ist auch die Konformität des Spektakels gemeint, dessen Faszination nur auf der ausnahmsweisen Steigerung und Überhöhung des Durchschnittlichen beruht, womit das Regime des Letzteren die Subjekte in seinen Bann zieht.
Normalität scheint einen toten Winkel zu implizieren, in den zusammen mit dem Wissen von den Gefahrenpotentialen sozialer und natürlicher Umwelten auch die Mechanismen dieser Ausgrenzung und ihre paradoxe Konstruktion verbannt werden. Nur so kann der Eindruck einer ausgewogenen, kontrollierten und abgesicherten Sphäre der Herrschaft „allgemeingültiger” Standards aufrechterhalten werden.
Dem begegnet die ästhetische Strategie Geys’ nicht nur mit einem Bewusstsein für die Gefahr stets drohender „Denormalisierung”, sondern vor allem mit praktischen Beweisen für die Erwartung, dass Vorgehensweisen, die sich auf Anomalien und deren Eigendynamik einlassen, viel besser geeignet wären, das Potential moderner Kommunikationsstrukturen auszuschöpfen und damit jene Intensität und Souveränität freizusetzen, die unter den Bedingungen allgemeiner Spezialisierung und Nivellierung (auch auf den höheren Niveaus) schnell ins Bedrohliche kippt.
Weder Institutionen noch konkurrierende Kreative dürften in der Lage sein, als Quelle einer solchen Dynamik zu fungieren. Beide geraten offenbar immer mehr in den Sog von Selbsterhaltungsstrategien, die eine Abkapselung nach Außen mit der Projektion aller wichtigen Daten auf den „inneren Schirm” verbinden, wobei die Verarbeitung der inneren und äußeren Impulse einer eindimensionalen Kybernetik folgt, und Experimente, spontane Gruppenbildungen und Irritationen als potentielle Risikofaktoren erscheinen.
Vielleicht bietet die Tatsache, dass mit Jef Geys im Münchner Kunstverein ein Ansatz vorgeführt wird, der sich einer radikal andern Logik verschrieben und von da aus konsequent weiterentwickelt hat, einen neuerlichen Anlass über die scheinbare Alternativlosigkeit einer Herrschaft des Normalen nachzudenken und sich zu vergegenwärtigen, dass es auch ein anderes „Jenseits” von Normalität und ihrer institutionellen Verankerung geben kann – eines das nicht darin besteht, die Grenzen der großen Mitte zum gefährlichen Extrem hin zu überschreiten, sondern eines, das quer dazu liegt und andere Möglichkeiten des Zusammenspiels zwischen heterogenen sozialen Gefügen und ihren Symbolen zulässt.

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Michael Hauffen

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