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Maria Ploskow - Linienzüge


Gewiss erschüttert die Delinearisierung die rechtwinklige und kreisförmige Kontinuität einer Linie, aber sie kompromittiert auch die Identität und die Unteilbarkeit des linearen Zugs, (...), seine Einheit als Zug.” Jacques Derrida, Falschgeld.

Mehr als andere Elemente der visuellen Welt scheinen Linien damit zu tun zu haben, dass wir nur das sehen, was wir als Beobachter in unseren Köpfen konstruieren. Besonders auffällig wird das an Beispielen, wie dem der Umrisslinie eines Objektes, deren materielle und ideelle Realität vollkommen davon abhängt, dass ich sie, die Umrisslinie, und nicht die Objekte selbst anvisiere und als Gestalt erfasse – ein Wechsel des Blickwinkels, der beim Zeichnen allerdings unumgänglich sein dürfte. Zwar gibt es auch Objekte, die selbst schon mit auffälliger Linearität behaftet sind, wie etwa dünne Äste, Flüsse aus großer Entfernung oder Demarkationslinien zwischen flächigen Territorien, aber diese Fälle legen andererseits eine Auffassung nahe, dergemäß Linien durch einen auffällig negativen Zug gekennzeichnet sind, wenn sie vor allem dort auftreten, wo Objekte aufhören, wo ihre Formen gebrochen, durchschnitten oder auf ein Minimum reduziert sind.
Dieser Zug des Linearen spiegelt sich in einem komplementären Aspekt, wenn man nämlich genauer darauf achtet, wie Linien als Elemente im Medium der Zeichnung funktionieren. Indem sie dazu geeignet sind, äußerst abstrakte und eigentlich periphere Merkmale des Sichtbaren festzuhalten, fordern sie vom Betrachter eine entsprechende Ergänzungsleistung um das, wovon sie abgezogen sind, wieder in sie hineinzulegen. Sicherlich geht dieser Prozess nicht ohne spezifische Konditionierungen vonstatten, erscheint aber wie ein Automatismus spontaner Wahrnehmung, wenn wir etwa in einer fahrig gezeichneten Umrisslinie das Gesicht und die Mimik eines bestimmten Menschentyps wiederzuerkennen vermögen.
In unserer modernen und hochgradig textualisierten Welt haben schließlich gezeichnete oder anderswie konkretisierte Linien den Status omnipräsenter Spuren und Markierungen erlangt. Das betrifft vor allem Gerade und geometrisch exakt definierte Lineaturen, die die Wirklichkeit mit ihren Rastern und Begrenzungen durchziehen und als Ergebnis einer historischen Entfaltung differenzierter Ordnungsstrukturen begriffen werden können. Die konstruktive Fähigkeit des Bewusstseins hat sich darin veräußerlicht und zu einem vielfach verwendbaren und bedeutsamen Medium gesellschaftlicher Kommunikation entwickelt.
Mit diesen knappen Hinweisen darauf, was beobachtete bzw. gezeichnete Linien voraussetzen und implizieren, soll hier der Versuch gemacht werden, die Verfolgung der Spuren aufzunehmen, die die Zeichnungen von Maria Ploskow auslegen.
Ihre Linien scheinen mit schöner Regelmäßigkeit den Moment treffen zu wollen, wo sich die konstruktive Leistung ihrer Betrachter selbst dabei ertappt, wie sie aus fast nichts eine komplexe Wirklichkeit generiert. Vor allem in Folge der Sparsamkeit, mit der Maria Ploskow ihre Linien auf die Fläche setzt, drängt sich dem „lesenden” Blick allerdings daneben auch ein zweiter Aspekt auf: die Striche verhehlen nie, dass sie mit der Hand gezeichnet sind. Sie stellen diese Tatsache und das mehr oder weniger bedeutsame Gewicht des Gestischen und seiner unbestimmten Abweichung vom „Objekt” sogar deutlich heraus. Das hindert andererseits nicht den Eindruck, dass dem Zug jeder einzelnen Linie so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, als ob mit ein paar wenigen Strichen Wesentliches zum Ausdruck gebracht werden sollte. Die Gesten nehmen dadurch Züge einer Choreografie an, in der jedoch weniger die Perfektion einer glatten Bewegung als vielmehr das nur relativ kontrollierte Spiel mit unvorhergesehenen Impulsen angestrebt wird. Zittrige, fahrige oder auch ganz naiv vor sich hin laufende Linien lassen bei aller Reduziertheit durchblicken, dass es hier nicht vorrangig um idealistische, geometrische oder designorientierte Stilübungen geht.
Dieser Punkt wird besonders im Zusammenhang mit der Entscheidung wichtig, von der reinen Handzeichnung zum Einsatz von Computern überzugehen, was es erlaubt, den gestischen Impuls der Hand über digitale Erfassung, Zerlegung und Speicherung zu transformieren, und damit die simultane Prozessierung physischer und intentionaler Faktoren aufzuspalten. Wird hiermit ein Bruch mit der Beglaubigung individueller Authentizität körperlicher bzw. manueller Gesten vollzogen? Oder erlaubt nur das heute kaum mehr zu leugnende Wissen um diesen Bruch, mit den verfügbaren Medien souveräner zu verfahren? Genauer betrachtet sind ja auch Handzeichnungen Ergebnisse rekursiver Prozesse mit einer Vielzahl möglicher Entscheidungen, die über die Methodik wiederholter Übungen ähnlicher Abläufe in einem Netzwerk von komplex strukturierten Unterscheidungen zu ihrer endgültigen Form finden. Was sich mit dem Einsatz des Computers ändert, ist daher zunächst nur der Umstand, dass die verschiedenen Momente des Experimentierens neben der Spur, die sie in der Erinnerung der Zeichnerin hinterlassen, auch noch als digitale Daten aufbewahrt werden können, was die Vernetzung verschiedener Ansätze und resultierender Kombinationen auf einer zusätzlichen, „supplementären” Ebene erlaubt. Noch mehr als im Fall der reinen Handzeichnungen, die vielfach iteriert und variiert werden, kann so über das Wiederaufrufen und Abändern früherer Versionen eine Art dialogischer Prozess konstituiert werden, in dem gegenwärtige Verfahrensentscheidungen mit zurückliegenden und vorweggenommenen Perspektiven verknüpft und in ihrer Bestimmtheit verfeinert werden.
Allerdings wissen wir heute auch um den prekären Charakter gerade solcher Sinnträger und der von ihnen konstituierten Sinnsysteme, die hochgradige Komplexität aufweisen. Die Wiederholbarkeit von Sinnelementen in solchen verzweigten Kontexten erweitert nicht nur ihre „Mächtigkeit”, sondern führt auch zu jener Spannung, die mit der Gefahr von Konflikten und Zusammenbrüchen verbunden ist.
Wie geht Maria Ploskow mit dieser „katastrophalen” Tendenz ihres Mediums um? Neben der essentialistischen Strategie, die versucht, sich an vermeintlich archaische Sinnsysteme zu halten und den eigenen Körper als natürliche Sinnquelle zu affirmieren, kann man bei ihr auch eine letztlich normative Strategie ausschließen, die darin besteht, die rationale Beherrschbarkeit der Bedeutung von Zeichen zu suggerieren.
Eine der Zeichnungen der Serie Tafeln zeigt an zentraler Stelle ein Exemplar des typischen banalen Kringels, wie er entstehen kann, wenn man einen Stift unwillkürlich in Schleifen übers Papier bewegt. Der Kringel nimmt hier jedoch die umrahmte Fläche ganz ein, indem er sie diagonal mit seinen Bögen durchquert, und erlangt so den Status eines in voller Absicht gesetzten Zeichens, das allerdings „leer” bleibt. Erst durch einen winzigen schwarzen Kopf am oberen Ende und vier weitere sehr kleine Kringel, die wie Insektenbeine wirken, wird die Figur zu einer Art Wirbelsäule eines monströsen, wenn auch harmlosen Wesens. Seine Gestalt mag durch ihre ablesbare Genese und ihren semantischen Wert an moderne Drogenphantasien erinnern, vermeidet aber jede affektive Aufladung, womit die Aufmerksamkeit für die Beobachtung des gestaltbildenden Prozesses frei bleibt. Vor allem die Linien – sowohl die große, als auch die vier kleinen – bleiben bei genauerer Fokussierung einfache und eigentlich sinnlose Linien und bestätigen die Figur des Strich-Monstrums nur, wenn man auch den Kopf mit in den Blick nimmt. Dieser dem Betrachter überlassene Wechsel zwischen dem Sehen von gestischen Spuren und dem Sehen einer Gestalt erlaubt es uns, den spielerischen Möglichkeitsraum assoziativer Zeichnung auszuloten. Um eine solche Interpretation zu bestätigen, bestehen die Zeichnungen der Serie Tafeln regelmäßig aus einer kleinen Gruppe solcher „Einfälle”, die, jeweils in gezeichnete Rahmen eingeschachtelt, wie Baukastenelemente angeordnet werden. Das vorliegende Blatt zeigt unter dem seltsamen Kringelwesen noch drei kleine Tafeln, die das selbe Entstehungsprinzip hier auf einen dicken Tuschefleck anwenden, der mit einem Gewirr weißer Kritzeleien zu einer Art Einkaufstasche transgrediert und dort lange Striche mit kleinen Kringeln zu flamingoartigen Tieren werden lässt.
In der Serie mind shelves verteilen sich analog generierte „Moleküle” zeichnerisch kreativer Prozessualität über die ausgedehnte Fläche zweier Papierbahnen von 20 Metern Breite. Anstelle der Anordnung im Baukastenprinzip begegnet man hier einem großzügigen Arrangement, das weniger das Moment von Beliebigkeit in der Aufeinanderfolge von Einfällen als die netzwerkartige Struktur assoziativer Verknüpfung betont. Die Tatsache, dass die Zeichnungen Ausdrucke digitaler Daten sind, erlaubt es der Künstlerin hierbei das Arrangement in Hinblick auf Dimensionalität und Relation der einzelnen Bestandteile kontextspezifisch durchzukomponieren. Komposition bedeutet hier jedoch nicht das Herstellen einer optimalen oder gar korrekten Konstellation von Elementen und ihren Atomen, sondern vielmehr die Suggestion ihrer völligen Kontingenz im Sinne der Demonstration eines Möglichkeitsraumes, aus dem auch andere, ebenso interessante Konstellationen und Nachbarschaften hervorgehen könnten.
Es wäre leicht, sich vorstellen, dass mit den hiermit konstituierten Elementen und ihrer methodischen Kombinatorik die Bedingungen für ein fortlaufendes ästhetisches Programm gegeben wären. Man hätte es dann mit einer relativ nüchternen Form von kritischer Reflexion eines Mediums zu tun, deren Konzentration auf elementare Operationen die Beobachter davor bewahrte, sich von den abgebildeten Inhalten faszinieren zu lassen. Mit der Serie Hunde und Kirchen beginnt Maria Ploskow jedoch eine Reihe neuer Zeichen ins Spiel zu bringen, die diese vielleicht allzu kühle Praxis mit komplexerer Materialität anreichern. Die gezeichneten Kirchen scheinen einerseits der Möglichkeit nachgehen zu wollen, dreidimensionale Abwicklungen linearer Strukturen zu konzipieren, und dabei andererseits durch die ornamentale Ausschmückung einfacher Kuben und Dächer so etwas wie rudimentären „Stil” zu artikulieren. Diese beiden Momente werden dann durch die parallele Abbildung von Hunden in eine Perspektive geschoben, die mindestens ebenso wie zu physiognomischen Studien, zum Lachen reizt, was nicht nur von einer starken affektiven Bindung an typische Objekte von symbolischer Bedeutung bewirkt wird. Sowohl in Haustiere, als auch in Prachtbauten versuchen wir ein letztlich unerfüllbares Begehren dadurch einzuschreiben, dass wir ihre Stilisierung übertreiben, sei es bei den Kirchen durch dominante Ornamentik, sei es bei den Hunden durch subtile Verfahren von Zucht und Auswahl.
Auch hier lassen die Zeichnungen noch erkennen, dass sie von Hand angefertigt wurden. Bei den Kirchen sind es vor allem deutliche Abweichungen von perfekter Wiederholung der Ornamente und von der exakten Darstellung der dritten Dimension, bei den Hunden nimmt der Reduktionismus der Objekte auf wenige und gezielte Linien allerdings eine Form an, die auf die Logik des Graphik-Design, also auf normalisierte Techniken durchschnittlicher Wiedererkennbarkeit von Zeichen verweist. Was bei den Kirchen als Improvisation mit einem Gestus erscheint, der sich weitab von Fragen der Realisierbarkeit bewegt, findet bei den Hunden auf der Ebene ihrer Züchtung und Auswahl statt, und wird durch die Zeichnungen nur prägnant als semiotischer Charakter von Alltagsobjekten in Erinnerung gebracht. Insofern geht es hier um ein Feld stilistischer Artikulation, das die Grenzen traditioneller ästhetischer Produktion übersteigt, und die damit angerissene Perspektive kann als Ausgangspunkt kulturkritischer Problemstellungen genommen werden.
Die Weitläufigkeit des damit betretenen Terrains dürfte denn auch der Grund sein, warum Maria Ploskow trotz weiterer analoger Exkurse immer wieder zur anfänglichen Konzentration auf spontan gezeichnete Grundelemente und ihre Kombination zurückfindet. Allerdings hinterlässt der begangene (Um-)Weg auch seine Spuren, wenn nun in einer neuen Serie der anfänglich destillierte Rohstoff weitere Anreicherung erfährt.
Um abzukürzen sei hier nur auf eine Serie verwiesen, in der die Gegenüberstellung von Handzeichnung und Computerzeichnung eine Art Dialog ergibt, wenn, wie in der Serie The Mix, Handzeichnungen als digitalisierte Objekte im Computer durch direkt eingegebene graphische Vektoren weiterentwickelt und/oder beantwortet werden.
Aber auch wo Maria Ploskow ganz in Richtung von Darstellung objektiver Dingwelten geht, wenn sie etwa üppig gedeckte Tafeln wiedergibt, bleibt durch ihre Beschränkung auf das Medium der Zeichnung das negative Moment der Umrisslinie stets präsent, ein Faktum, das besonders zugespitzt erscheint, wenn jene unmittelbare sinnliche Verführungskraft, die die Welt des Kulinarischen auszeichnet, mangels Farbe und Plastizität abstrakter Linien durch den Zwang verdrängt wird, die Leistung imaginärer Vervollständigung zu erbringen.
Vielleicht ist es vor allem die Erfahrung, dass sich Logik und Bedeutung des Linearen nicht auf ein einheitliches Begriffsmuster reduzieren lassen, die Maria Ploskows Auseinandersetzung mit dem elementaren Vokabular der Zeichnung provozieren will. Genauso wie die Spuren aufgezeichneter physischer und semantischer Unruhe mit der relativen Unbestimmbarkeit ihrer „realen Grundlage” dazu zwingen, sich auf intuitive, konventionelle oder theoretische Konstrukte zu beziehen, wenn man sie „verstehen” will, genauso stürzen sie auch schon die bloße Wahrnehmung der durch sie entstehenden Strukturen in unentscheidbare Situationen, weil jeder Zug auf der Fläche auch den Wert aller anderen vorhandenen graphischen Elemente beeinflusst. Aus der unberührten Fläche wird eine verwickelte Ordnung von positiven und negativen Fragmente, die aufeinander einwirken und von einem bestimmten Komplexitätsgrad an aufgrund gegenseitiger Relativität ihre Eindeutigkeit verlieren. Und wenn man trotz einer dieser Logik folgenden Freisetzung unkontrollierbarer Effekte etwas aus den Zeichnungen Maria Ploskows herauslesen zu können glaubt, so bleibt doch immer der Verdacht, dass man etwas anderes übersehen haben wird, etwas das jenseits der klaren Botschaften liegt, die dazu tendieren, uns in eine sichere Welt der Normalität einzuschließen.

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Michael Hauffen

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