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Prosa to go


Passend zum Vorhaben, die Mythen der Luxusmetropole München hinter mir zu lassen, und mich in den weniger exklusiven Teilen der Stadt umzusehen, beginne ich meine Stadtwanderung bei strömendem Dauerregen am Goetheplatz. Nur wenige der PassantInnen sind mit Regenschirmen ausgerüstet, so als ob sie sich bereits mit dem erwartbaren Abbau der Bequemlichkeiten technischer oder sozialer Sicherungssysteme anfreunden wollten. Ein junger Radlfahrer mit Regenkombi unterzieht auch einen Geldautomaten dieser Bewährungsprobe, indem er beim Eintippen der Geheimzahl einen Teil der Wasserströme Richtung Tastatur lenkt. Wie zu erwarten, lässt sich das Finanzsystem davon nicht stören, und der Radlfahrer kann die gewünschten, aber leicht durchnässten Scheine in Empfang nehmen.
Vom Kapuzinerplatz her zieht einen das Gebäude des Arbeitsamtes in seinen Bann. Der reichliche Baumbestand vor dem Amt mildert dessen unfreundlichen Eindruck zwar ab, könnte aber auch als Tarnung empfunden werden, die eine böse Absicht nur verdeckt.
Steht man direkt davor, wirkt das Amtsgebäude noch unerbittlicher, da es jetzt auf der gegenüberliegenden Straßenseite durch prächtige Bürgerhäuser aus der Gründerzeit mit ihren verspielten Fassaden kontrastiert wird. Dies dürfte den BesucherInnen schon von außen deutlich machen, welche Mischung aus Büromief und Schikane sie im Inneren zu erwarten haben. Mit seiner Ziegelbauweise passt sich das Gebäude übrigens der vorherrschenden Ästhetik des Schlachthofviertels an. Die Tumblingerstraße bildet dessen nördliche Begrenzung, und während sich hier also links die Ziegelbauweise von Gebäude zu Gebäude in unterschiedlicher Form fortsetzt, prägen rechts die verschlafenen Fassaden der Wohnhäuser vom Ende des 19. Jahrhunderts das Straßenbild. Links in der Zenettistraße tauchen die historischen und zentralen Teile des Schlacht- und Viehhofs auf. Zunächst die alten Viehhallen, in denen die angelieferten Tiere versteigert und bis zur Abschlachtung untergebracht werden. Die Vorderfront der Gebäude nehmen Büroräume ein. Beim Vorbeigehen fällt gleich auf, dass hier nicht mehr viel los ist. Das liegt daran, dass der Betrieb vor einiger Zeit in ein Industriegebiet an der Stadtgrenze verlagert wurde. Aber nicht ganz – wie man am gelegentlichen Fleisch- und Blutgeruch feststellen kann. Die Büroräume sind bereits untervermietet, zumeist an Werbeagenturen, wie es scheint. Den Mittelpunkt des Ensembles bildet das renovierte Wirtshaus zum Schlachthof (ehemals „Gaststätte Viehhof”, wie man an der alten Aufschrift noch lesen kann), das inzwischen einem bekannten Münchner Kabarettisten gehört, der den großen Saal für KollegInnen zur Verfügung stellt. Aus dem Saal, und das prägte seine überregionale Bekanntheit, wurde wöchentlich die engagierte Live-Jugendsendung des Bayrischen Fernsehens „Live aus dem Schlachthof” ausgestrahlt.
Das Wirtshaus und sein Publikum sind in die unmittelbare Umgebung jedenfalls kaum noch integriert, vor allem weil die Arbeiter fehlen, die es einst frequentiert haben, dann aber auch optisch wegen des ungeheuren Durcheinanders neu hinzugekommener Gebäude, die inzwischen zu verschiedenen Teilen von unterschiedlichsten Firmen genutzt werden. Auch hier sind es wieder nur die alten Alleebäume, die das Ganze vor dem visuellen Desaster bewahren.
In der Thalkirchner Straße eine ähnliche Konstellation wie zuvor in der Tumblingerstraße: auf der einen Seite heruntergekommene Ziegelbauten, auf der anderen Seite die Fassaden einiger alter Wohnhäuser, die hier allerdings häufiger von Neubauten verschiedenster Epochen durchsetzt sind, was das Straßenbild endgültig kippen lässt. Dafür finden sich in den Läden eine große Zahl Metzgereien, von denen einige als Geheimtipp gelten. Nach einem Schwenk in die Ehrengutstraße beruhigt sich das Bild: jetzt sind nur noch alte Häuser zu sehen. Gleich rechts am Anfang setzt eine Kneipe mit der Aufschrift „Stüberl 1899” den passenden Akzent: So wie sich die Münchnerinnen und Münchner jedes Jahr zum Oktoberfest mit Dirndl und Lederhosen als Landbevölkerung „der guten alten Zeit” kostümieren, so will man auch an dieser Stelle die Kulisse vergangener Zeiten wahren. Hier wie dort allerdings mit unauffälligen Abwandlungen, die deutlich signalisieren, dass es sich um ein konventionelles Spiel handelt, das auf dem jährlichen Mega-Bierfest nur dank massiver Präsenz authentischer Landbevölkerung vor tödlicher Sterilität bewahrt bleibt. Hier im Viertel könnten es die pensionierten oder sonstwie ausgemusterten Reste ehemaliger Arbeiterschichten sein, die ihre Chance zu öffentlicher Existenz in einer analogen Funktion wittern.
Im Übrigen sind im ganzen Viertel bereits sämtliche Läden des täglichen Bedarfs verschwunden. Gerade verlassen auch zwei Männer ein leergeräumtes Geschäft, das noch bis vor kurzem – wie die Aufschrift anzeigt – mit Seilen und Hanfprodukten gehandelt haben muss, und das letzte einer ehemals vielfältigen Versorgung mit Handwerksbedarf gewesen sein dürfte. Die stattdessen sich häufenden ModedesignerInnen, Ayurveda- und Esoterika-AnbieterInnen, Inneneinrichtungs- oder Kinderläden machen nur allzu deutlich, welcher Prozess da in vollem Gang ist. Viele Ladenlokale stehen auch einfach nur leer oder dienen inzwischen anderen Zwecken, wie etwa ein Künstleratelier in der Reifenstuelstraße.
Vorne am Roecklplatz bietet sich ein ähnliches Bild wie etwa am Prenzlauer Berg in Berlin, wenn auch im Kleinstadtformat: Auf der einen Seite ein großer Spielplatz mit Müttern aus der Mittelschicht und einem schönen alten Brunnen, gegenüber ein Italiener, der hier für Authentizität im Sinne der Münchner Orientierung gen Süden sorgt, und dazwischen schieben sich langsam teure Autos. Ich setze mich auf einen Cappuccino in den Kult-Italiener. An den Tisch neben mir kommt ein älterer Herr, den der energische, den Kult offensiv zelebrierende Kellner namentlich als "Herr Dr. Soigel" begrüßt, und der beginnt in einer Zeitschrift für Aktienanleger zu lesen. "Fusionen bei mehreren Firmen aus dem MDax stehen an", oder so ähnlich lautet eine Überschrift, mit der sagenhafte Gewinnchancen angekündigt werden. Ein neben dem Herrn liegender Stapel von Bauplänen deutet außerdem auf Aktivitäten im Immobilienbereich hin. Allerdings scheint die weitere Aufwertung dieses und ähnlicher Viertel wahrscheinlich, weshalb sich Investitionen in Wohneigentum hier weiterhin lohnen dürften.
Eine Rolle spielen dabei auch die nahegelegenen Isarauen, die außerdem mit luxuriösen Neubauwohnungen aufwarten können. Aber schon kurz nachdem ich das Café verlassen habe und ein paar hundert Meter weiter zum Gotzinger Platz spaziert bin, ändert sich das Bild gründlich. Hier sind es nun vor allem Personen muslimischer Zugehörigkeit, die sich in einem großen türkischen Gemüsemarkt mit Lebensmitteln eindecken. In einem ganz unprätentiösen Café nehme ich einen weiteren Cappuccino und werde Zeuge, wie sich ältere und mittellos wirkende Menschen verschiedenster Herkunft am gegenüberliegenden Haupteingang der Großmarkthallen geduldig in eine Schlange reihen, um – wie sich später zeigt – mit vollen Taschen und Rollwägen wieder herauszukommen. Offenbar werden hier nach Geschäftsschluss unverkaufte Waren an Bedürftige verteilt. Nur ein paar Schritte weiter befindet sich das noch unbebaute Grundstück auf dem demnächst Münchens größte Moschee entstehen soll. Das Genehmigungsverfahren dazu ist bereits weit fortgeschritten, auch wenn aus den Reihen angestammter AnwohnerInnen, unterstützt von einer bayrischen Partei, die sich der Wahrung christlicher Werte verschrieben hat, der erwartete Protest nicht ausbleibt. Auf jeden Fall steht bereits fest, dass die Höhe der Minarette die der gegenüberliegenden beiden Kirchtürme nicht überschreiten darf, denn das ist für ganz Bayern gesetzlich festgelegt. Dafür wurde an der Höhe der Kirchtürme hier seinerzeit auch wahrlich nicht gespart! Es bleibt also einiger Spielraum.
Mit diesen Eindrücken für ein update meines Kenntnisstandes von den strukturellen Eigenheiten marginaler Innenstadtrandbereiche gut versorgt, wende ich mich nun dem anderen für „Gefährliche Kreuzungen” relevanten Areal zu, das sich vielleicht am besten als frühe Variante einer Satellitenstadt charakterisieren ließe. Wenn man am Giesinger Bahnhof die U-Bahn verlässt, sieht man gleich, dass hier die Straßen viel breiter, die Gebäude im Durchschnitt großräumiger konzipiert, und die Gehsteige leerer sind. Das Bahnhofsgebäude selbst wirkt nach seiner Renovierung und dem Umbau zu einem Kulturzentrum mit Restaurant immer noch wie ein Relikt aus der Pionierzeit des Schienenverkehrs und könnte als Ausflugsziel für extrem nostalgische Sommerfrischler durchgehen. Das benachbarte ehemalige Kino mit seiner Nierenform stammt dagegen offensichtlich aus den späten 50er Jahren, und damit schon aus der Zeit, in der die Besiedlung von Obergiesing bereits ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Mit dem Fahrrad entlang der Schwanseestraße zeigen sich zunächst die früheren Genossenschaftsanlagen als nach außen abgeschlossene Komplexe, ein Konzept, das die Polizei womöglich nach den Erfahrungen mit der Räterepublik in München vorteilhaft fand, während die Planer mehr den Zusammenhalt der BewohnerInnen im Sinn gehabt haben mögen. Weiter stadtauswärts wird die Bebauung dann immer lockerer, und man sieht verschiedene freistehende, auf Rasenflächen verteilte Gebäuderiegel, die dem seit den 50er Jahren aufkeimenden Individualismus entgegenkommen. Den Abschluss an der Umkehrschleife der Straßenbahn bildet ein kleines Hochhaus mit davor liegenden Pavillons für ein Café und einen Supermarkt. Das Innere des Areals um den Hohenschwangau-Platz bilden dagegen umfangreiche Relikte aus der Gartenstadt-Ära. Trotz der teilweise neuen und weniger tristen Fassadenanstriche, ist hier noch alles stilecht – bis auf die Unmengen an Autos freilich, für die weit und breit keine Tiefgaragen vorgesehen wurden.
Auf der anderen Seite der Schwanseestraße fallen vor einem ausgedehnten Industrieareal diverse Blumencenter und Grabsteinbetriebe auf, was den nahen Friedhof „am Perlacher Forst” anzeigt. Sein Haupteingang befindet sich – hinter großen Weiden gut versteckt – am Ende der Straße.
Ich begebe mich erst mal ins „Café Schwansee” vor dem Hochhaus. Als Kind durfte ich hier des öfteren ein Törtchen aussuchen und verspeisen – heute allerdings ist von derart speziellen Leckereien nichts mehr zu entdecken. Auch mein Wunsch nach einem echten Cappuccino wird von der Bedienung streng zurückgewiesen, denn „wir sind ja hier nicht in Italien!” Sogar die Inneneinrichtung scheint sich zurückentwickelt zu haben: das ehemals in einem sachlich-optimistischen Stil gehaltene Interieur musste der düsteren Simulation eines Wiener Kaffeehauses weichen. Die fünf alten Damen, die mir gegenüber an drei Tischen sitzen, werden sich hier wohlfühlen. Dazu trägt auch der an der Decke angedeutete Stuck und das Gold- bis Dunkelbraun der Wände bei. Aus dem Radio kommt eine Unwetterwarnung. Ich nutze noch schnell die gerade auftauchenden Sonnenstrahlen, um mich ins Freie zu begeben. An den Nebentischen unterhält man sich erregt über Mietangelegenheiten. Womöglich stehen ja auch hier demnächst umfangreiche Privatisierungen von Wohnanlagen an; das könnte das soziale Umfeld aus seiner womöglich vom nahen Friedhof bewirkten Lethargie befreien.
Weiter rechts neben dem Friedhof komme ich dann zur hohen Betonmauer des Stadelheimer Gefängnisses. Die Mauer stammt aus den 60er Jahren und verbirgt die Justizvollzugsanstalt fast vollständig vor den Vorbeifahrenden. Dazu trägt auch bei, dass der Eingangsbereich unter die Oberfläche verlegt wurde; dicht davor gepflanzte Akazien brechen zusätzlich den Blick auf das acht Meter hohe Grau. Die prominentesten Gefangenen hier waren Adolf Hitler und die Geschwister Scholl, berühmtester Besucher wahrscheinlich Michael Jackson, der einem der Steuerhinterziehung verdächtigen Münchner Konzertagenten die Treue hielt.
Über die Mauer hinaus ragen nur die beiden denkmalgeschützten Gebäudeteile von der vorletzten Jahrhundertwende und ein paar Wachtürme. Man hat also keine Chance der Gefängnisrealität voll ins Auge zu sehen – außer man wohnt ganz oben in einem der Häuser, die gleich neben und hinter dem Gefängnis liegen und deren Fenster direkt auf die Betonmauer gerichtet sind.
Bei der ehemaligen McGraw-Kaserne, die ein Stück weiter rechts beginnt, liegt die Sache genau umgekehrt: damals, als ich in der Gegend wohnte, war das Areal hermetisch abgeriegelt, mit Wachposten und Stacheldrahtverhau an den bewehrten Eingangstoren, da es von den Amerikanern seit 1945 als militärischer Verwaltungskomplex genutzt wurde. In den Neunzigern wurde der Stützpunkt aufgegeben, und so bietet sich mir nun die Gelegenheit dessen Inneres erstmals zu erkunden. Von dem, was seinerzeit eine Quelle kühner Phantasien bildete, bleibt allerdings nur ein desillusionierender Rest. Der imposanteste Teil ist der massive Bau der ehemaligen Reichszeugmeisterei der NSDAP mit dessen bedrohlich wirkendem Turm (eigentlich nur der Schornstein des Heizkraftwerks), den man in der Umgebung schon von weitem sehen kann. Daneben finden sich kaum mehr als ein paar Wohnblocks und halb vergammelte Hallen. Dem Münchner Polizeipräsidium sind hier zusätzlich zum Nazi-Bau noch weitere Teile des Areals zugesprochen worden, aber manche Nebengebäude scheinen leer zu stehen oder weisen jedenfalls bereits Spuren des Verfalls auf. Von Geschäftigkeit ist wenig festzustellen; bis auf zwei Jungs, die unter einem Vordach des Polizeipräsidiums herumlungern und mit ihren PlayStations spielen, begegnet mir kaum jemand (es ist Samstag Mittag). Das massive Gebäude des ehemaligen PX (ein Supermarkt für die Angehörigen der Army) an der Ecke, sieht besonders heruntergekommen aus – einst war es der Traum jeden Teenagers in der Umgebung, dort einkaufen zu dürfen. Oben sind noch schwach die Konturen des ehemaligen Schriftzuges „University of Maryland” zu erkennen, aber die Fassade bröckelt bereits ab.
Spektakulär ist allerdings der tiefe Graben, der das ganze Areal der Länge nach durchzieht, und in dem sich ein vierspuriger Autobahnzubringer befindet. Ohne diese aufwendige Konstruktion hätten unter den damals herrschenden Bedingungen Verkehrsfluss und militärische Interessen nicht miteinander vereinbart werden können. Zurück bleibt eine heute sinnlose, monumentale Kuriosität, die es verdiente – zusammen mit den teilweise ebenfalls überflüssig gewordenen Gebäuden an ihren Rändern – zum Weltkulturerbe erklärt zu werden.
Das Terrain am unteren Ende des Grabens trägt übrigens die Bezeichnung „Sankt-Quirin-Platz”. Hier treffen ein kleiner Park, der Mittlere Ring, ein Polizeirevier, eine Kirche, der besagte, überbrückte Graben und eine U-Bahnstation sowie eine Kiesfläche mit parkenden Autos zusammen und bilden eine Mischung, die den Begriff „Platz” von jeglicher Idee eines harmonisch gestalteten öffentlichen Raums weit entfernt.
Zum Schluss steht noch ein Abstecher in die Siedlung an der Lincoln-Straße auf dem Plan. Sie wurde ebenfalls von den Amerikanern in den frühen 50er Jahren für die Unterbringung der Armeeangehörigen und ihrer Familien angelegt. Damals war das für uns Nachbarn eine Quelle authentischer Anschauung amerikanischen Lebensstils, wovon auch das jährlich stattfindende „Little Octoberfest” bis heute zehrt. Die breiten Straßen verlaufen dort nicht ordentlich gerade, sondern durchziehen die parkartigen Rasenflächen auf gebogenen Bahnen. Ohne Zäune oder andere Hindernisse dazwischen verteilen sich die Gebäude scheinbar zwanglos, wobei jedes eine große Nummer aufweist. Außerdem war hier immer genug Platz zum Parken – auch für Straßenkreuzer. Inzwischen sind die „Amis” abgezogen und ihre Spuren verblassen nach und nach. Immerhin ist das Kino in der Cincinnatistraße noch in Betrieb und lässt uns dank Hollywood mit der jetzt auch hier eingekehrten, nur allzu vertrauten Kultur nicht ganz allein.

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Michael Hauffen

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