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for example S, F, N, G, L, B, C – Eine Frage der Grenzziehung


Dass die logische Verbindung zwischen Neokolonialismus und der Ausbeutung marginaler Gruppen die Migrationspolitik darstellt, bietet sich als Ausgangspunkt einer Ausstellungsreihe in der shedhalle Zürich schon deshalb an, weil die Schweiz ihr Verhältnis zum Kolonialismus nach wie vor nur sehr zögerlich aufzuarbeiten bereit ist. Migration ist dagegen ein Konfliktfeld, das hier schon immer breiten Raum in der öffentlichen Diskussion einnimmt, und – wie die letzte Wahlkampagne der Konservativen gezeigt hat – mit denselben Klischees wie ringsum dramatisiert wird. Die Arbeit von Caterina Mona nimmt darauf direkt Bezug, indem sie die Gesten der Wahlplakate – Gesichter, die wie in Munchs Schrei den Mund öffnen, und die Hände an die Ohren legen – nachstellt, worüber die Akteure nur lachen können.
Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf die verschiedenen Ausweise, die „Ausländern” genau abgestufte Aufenthaltsrechte zugestehen. Flache Sitzgelegenheiten, deren Oberflächen diese Ausweise graphisch abbilden, verteilen sich über die gesamte Ausstellungsfläche, wobei ein jeweils eingebauter Lautsprecher die komplette Liste der damit verbundenen Restriktionen kundtut. Die KuratorInnen Katharina Schlieben und Sønke Gau machen damit ihren konzeptionellen Rahmen deutlich, der in der Annahme von kolonialen Konstanten begründet ist. Diese sind nicht an das Vorhandensein einer direkten kolonialen Vergangenheit gebunden, sondern wird auch durch wirtschaftliche und politische Machtgefüge reproduziert – aktuell etwa durch den Beitritt der Schweiz zum Schengener Abkommen.
Die strategische Grenzsicherung der „Festung Europa” visualisieren auf sehr direkte Weise eine Reihe von Landkartenentwürfen, die Philippe Rekacewicz als Grundlage für seinen Atlas der Globalisierung gezeichnet hat. Eine der Karten dokumentiert etwa die Art und Weise, wie sich die Grenzlinien verteilen, an denen in den letzten zehn Jahren etwa 7000 MigrantInnen zu Tode gekommen sind. An praktischen Vorschlägen zur Problemlösung fehlt es eigentlich nicht. Das jedenfalls demonstriert schleuser.net, wenn sie ihren bekannten Informations- und Beratungsservice anbieten, um derartige Unfälle zu vermeiden.
Aber nicht nur die „harten” Fakten werden thematisiert. Grenzregime funktionieren auch auf der Basis von Ein- und Ausschlussmechanismen, die kulturelle Symbolsysteme betreffen; und gerade hier lassen sich alltägliche Unterscheidungen auf koloniale Handlungsmuster zurückverfolgen. Da genügen beispielsweise Ortswechsel innerhalb der Schweiz, wie die Videointerviews von Franca Candrian mit ihren beiden Großmüttern belegen. Während die eine als romanisch sprechendes Dienstmädchen nach Zürich kam, heiratete die andere, eine deutschsprachige Schweizerin, in der Surselva. Beide erfuhren das Gefühl von Fremde im eigenen Land, nicht nur wegen der Sprachbarrieren.
Vor allem betrifft dies aber natürlich MigrantInnen im eigentlichen Sinn, und ihre Nachkommen. Pia Lanzinger zielt auf migrantische Jugendliche ab, wenn sie sich dem Ereignis zuwendet, das in der diesjährigen Fußball-WM-Euphorie einen irritierenden Bruch markiert hat, nämlich den Kopfstoß Zinédine Zidanes gegen die Brust seines Kontrahenten Materazzi. Über eine systematisch arrangierte Auswahl von Zitaten, die sie den Medien entnommen hat, wird dieses Ereignis als komplexes Zeichen lesbar gemacht. Nicht zuletzt muss es als Reaktion auf die Normalität der Repressionen gelesen werden, denen Migrantenkinder ausgesetzt sind. Um dies zu unterstreichen, werden die Zitate von jungen Fußballspielern aus dem Berliner Stadtteil Neukölln vorgetragen. David Vogels Film „Yazids Brüder” dokumentiert dazu komplementär ganz konkret die Stimmung in jenen Vorort von Marseille, in dem Zidane aufgewachsen ist. Anne Lorenz und Rebekka Reich lassen in ihrer literarischen Toncollage TAXI RÜCKSPIEGELBLICK einen Züricher Taxifahrer mit migrantischem Hintergrund zu Wort kommen, weil sie annehmen, dass dieser die besten Voraussetzungen mitbringt, um die Unstimmigkeiten im Leben dieser Großstadt zu beobachten. Eine ähnlich inoffizielle Perspektive und deren Paradoxien dokumentiert das Video von Jesper Nordahl, in dem es um Cricket-Teams in Schweden geht. Diese wurden von Einwanderern aus Pakistan, Afghanistan oder Bangladesh gegründet, die sich immer noch wundern müssen, dass es hier keine nationalen Cricket Mannschaften gibt, die für ihr neues Land spielen und gewinnen können.
Um die globalen Strukturen, die die Verhältnisse in der „Festung Europa” prägen, nicht aus dem Blick zu verlieren, werden aber auch Bezüge auf die ausgegrenzten Regionen hergestellt. Oliver Ressler tut das auf sehr direkte Weise, indem er in einer Intervention am Hauptbahnhof Zürich zwei Zahlen gegenüberstellt. Die eine beziffert die afrikanischen Auslandsschulden, die andere stellt den hochgerechneten Wert der Schäden dar, die der Kontinent durch den Kolonialismus erlitten hat. Das Verhältnis beträgt etwa 1:3000 und lässt sich auch als Hinweis darauf verstehen, warum die westlichen Staaten bis heute ein Schuldeingeständnis ablehnen.
Jochen Becker, der in der shedhalle als eine Art temporärer Subkurator agiert, ging dem in Bezug auf Wettbewerbsfähigkeit krassen Unterschied zwischen der Schweiz und Afrika mit einer Reihe von Kunst- und Rechercheprojekten nach. So werden etwa die Copyright-Regime und deren Versuch, sich den Globus wirtschaftlich zu unterwerfen, einer kritischen Betrachtung unterworfen, wie sie sich auch in den inzwischen verbreiteten Copyleft-Bewegungen manifestiert. Zum Thema Open Source wird ein Buch kostenlos angeboten, und ein Video dokumentiert die autonome Filmproduktion in „Nollywood” (Nigeria). Die inzwischen weltweit drittgrößte Filmindustrie bietet ihre Produkte auf denselben Märkten an, die auch mit sogenannten Raubkopien handeln. Die Gruppe SMAQ architecture urbanism research (Sabine Müller, Andreas Quednau) widmet ihre Aufmerksamkeit der zunehmenden Verbreitung des Mobiltelefons in Kinshasa, wo es mangels Infrastruktur die einzige Möglichkeit von Telekommunikation darstellt. Analog zu den Strategien der klassischen Konzeptkunst wurden hier anhand einer Schnittlinie, die die ganze Stadt durchquert, Verkaufsstände von Telefonkarten fotografiert und auf einem faltbaren Karton-„Strip” maßstabgerecht angeordnet. Die Stände bestehen aus immer den gleichen kleinen Tischchen mit einem Fach, ein Design, das hier auch für die Ausstellungsarchitektur übernommen wurde.
Schließlich bleibt noch die Frage nach den kulturellen Transfers, deren ungleiche Inhalte sich irgendwo zwischen Nachahmung, Exotismus und Sendungsbewußtsein zu bewegen pflegen. Sofie Thorsen spürt den damit verbundenen Widersprüchen anhand einer Organisation für Entwicklungshilfe nach, in der auch ihre Eltern tätig waren. Das Engagement für den Export von Wissen und Wertvorstellungen kontrastiert sie mit den Ansichten einer dänischen Vorstadtsiedlung, deren Straßen die Namen von afrikanischen Ländern tragen, und in denen der Geist des Spießbürgertums zu residieren scheint. Brigitte Kuster und Moise Merlin Marbouna zeigen die Situation aus afrikanischer Perspektive: Marbounas Urgroßvater wurde vor 114 Jahren von deutschen Truppen getötet, was den Urenkel aber nicht daran hinderte, die deutsche Kultur zu bewundern. Umso größer muss die Enttäuschung über die Behandlung sein, die der Einwanderer im Land seiner Vorbilder erfährt, womit sich der Verdacht erhärtet, der auch repräsentativ für die ganze Ausstellung stehen könnte: nämlich, dass ein Vergessen der Geschichte keine Befreiung von ihrer Logik bedeutet.
Weitere Beteiligte: Cicero Egli und ACOR SOS Racisme, forschungsgruppe_f, Kanak TV, Christian Mayer und Yves Mettler, Silvia Orthwein-Erhard und Daniel Usbeck, Hanna Salzer und Philip Hofmänner, Diana Wyder.

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Michael Hauffen

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