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Richard Sennett - Fleisch und Stein
Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation


Greenboro ist der Name einer nordamerikanischen Stadt, die auch als "Parkplatzstadt" bekannt ist. Lewis Mumford merkte schon 1961 an, daß dieser Spitzname zu Unrecht auf eine einzige Stadt angewendet würde, weil sich alle Städte dahin entwickelten von riesigen Schnellstraßen zerstörte Zentren zu haben. Nachdem auf diese Art die meisten Bewohner zur Flucht gezwungen werden, stellt sich der städtische Raum heute als ziemlich hohles Gebilde dar; neben seiner Hauptfunktion als Geschäfts- und Verwaltungsraum erfüllen repräsentative Plätze und Monumente allenfalls noch Zwecke der komfortablen Abwechslung und der Machtdemonstration.
Freilich gibt es noch einige Spuren von Widerstand gegen diese Vernichtungswut, sowie einige übriggebliebene Reste urbanen Lebens, wie Greenwich Village, jenem Teil von New York, in dem auch Richard Sennett lebt. Als Soziologe ist er sich des Werts und der Bedrohtheit derartiger Stadtkultur bewußt, und versucht, spätestens seit seinem ersten ins Deutsche übersetzten Buch "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens - Die Tyrannei der Intimität" die theoretischen Grundlagen für einen kritischen Umgang mit dieser Situation zu schaffen.
Sein neuestes Buch "Fleisch und Stein" beginnt die Untersuchung bei den alten Griechen. Auf das Athen des Perikles wird heute, zumindest soweit von der Sklaverei abgesehen werden kann, eine ideale Kultur der Öffentlichkeit projiziert. Ohne die Potentiale etwa der Agora, eines zentralen Platzes für alle möglichen Handlungen, herabsetzen zu wollen, arbeitet Sennett aber auch hier schon antagonistische Kräfte heraus, vor allem eine flache Rhetorik der Selbstdarstellung gegen die rituelle Würde leidender (Frauen-) Körper. Im römischen Imperium verschiebt sich diese Spannung auf die einschüchternde Gewalt monumentaler Geometrie einerseits und die Erfahrung von Einsamkeit bzw. einer unheimlichen Leere andererseits.
Mit seinem neuen Ethos des Mitleidens, spiritueller Distanzierung von den eingefleischten Strukturen des Kliententums, führt das Christentum dann zum Begriff der Gemeinde, als deren Ort sich nur ein Innenraum für alle Gläubigen eignete. Im mittelalterlichen Paris setzen sich mit Notre Dame dank erstarkter Produktivkraft neben den weltlichen und kirchlichen Herrschern nun auch die Handwerker ein Zeichen ihres Selbstbewußtseins. Das melancholische Ideal meditativer Räume muß sich aber schon gegen eine aggressive Energie des Handels abgrenzen. Klostergärten stellten für die Mitglieder einer Gemeinde eine Zuflucht dar, in der sich die Menschen drängten um Ruhe und Frieden zu finden. Durch die in ihm geltende sprituelle Disziplin war dies das Vorbild auch für die Autonomie der Gilden, deren Bedingung für die Aufrechterhaltung einer kohärenten Lebensform allerdings mehr und mehr die Leugnung wirklicher wirtschaftlicher Dynamik war.
Die moderne Stadt beginnt so mit der Zerrissenheit zwischen Ort (Gemeinschaft) und Raum (wirtschaftliche Kräfte), und die goldene Mitte wird zu einer prekären Angelegenheit. Der Versuch einer Lösung dieser Spannung durch Ausschluß einer in die Wirtschaft stark involvierten Personengruppe wird am Beispiel des jüdischen Ghettos im Venedig der Renaissance geschildert. Trotz der irrationalen Berührungsangst, die hierbei nicht verringert, sondern bis ins Phantastische gesteigert wurde, identifizierten sich auch Juden mit der ihnen aufgezwungenen Isolation, weil sie dort ihren Traditionen ungestört nachgehen zu können hofften. Aber: "Eine auf Unterdrückung beruhende Gruppenidentität bleibt ein Instrument in den Händen des Unterdrückers." Die christliche Gemeinde vermochte die Überzeugung von ihrer eigenen Reinheit nur durch Haß auf die Juden und Prostituierten aufrechterhalten, der sich 1636 in einem der grausamsten Pogrome gegen Juden austobte.
Schließlich finden mit dem aufkommenden Kapitalismus und angesichts des bedrohlichen Wachstums der städtischen Massen die Stadtplaner von Paris und London zu analogen Lösungen der Entschärfung: durch Beschleunigung des Verkehrs. Die Präsenz von Körpern wird immer mehr zugunsten einer Zirkulation von Objekten verdrängt, die aber sogar für die vermögenderen Schichten nur lähmenden Ersatz darstellen. Deshalb glaubt Sennett an die Lossagung von der gesellschaftlichen Definitionsmacht, die uns über Lustprinzip und fiktive Ganzheit kontrolliert, als Befreiung zu lebendigem Menschsein. Sein Buch könnte dazu beitragen, daß die Angst vor Schmerz und Entwurzelung in den Wunsch nach Kontakt über die gesellschaftlichen Grenzen hinweg umschlägt.

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Michael Hauffen

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