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Société Réaliste: Transitioners - London View


Im Gegensatz zu früheren Projekten, die etwa die Logik des Risikokapitals im Kunstmarkt untersucht haben, konzentriert sich das unter dem Label Société Réaliste firmierende Duo inzwischen auf allgemeinere ideologische Formationen. In der zeitgemäßen Maske einer Werbeagentur auftretend stellen sie sich die Aufgabe, revolutionäre Stimmungen zu provozieren, und greifen dabei nicht ohne Ironie auf das Repertoire der Trendforschung zurück. Die präsentierten Landkarten zeichnen sich einerseits durch attraktive Farbigkeit aus, stellen aber andererseits zwei Varianten sorgfältiger historischer Recherchen dar. Während auf der einen Karte alle Grenzverläufe der Jahre 0 bis 2000 nach Christus verzeichnet sind, wobei eine Farbskala von Blau bis Rot als Indikator des Zeitpunkts der Grenzziehung dient, sind auf der Anderen Regionen entsprechend ihrer durchschnittlichen Entfernung von Grenzen eingefärbt, was als Indikator für die relative Konfliktträchtigkeit gelesen werden kann. In ähnlicher Weise markieren auf der ersten Karte farbige Kreise, die für 100 ausgewählte Städte stehen, deren historische Nähe zu Grenzkonflikten. Während also einerseits Problemzonen quer durch die Geschichte differenziert über Diagramme nachgezeichnet werden, resultiert andererseits als Gesamteindruck eine verworrene Vielfalt von Konflikten, die die heute wiedererstarkenden Vorstellungen historisch solide begründeter Nationalstaaten ad absurdum führt. Als Non-Plus-Ultra wartet Société Réaliste schließlich mit einer dekorativen Streifengrafik auf, die in Form von Farbbalken nochmals die Liste jener Städte repräsentiert. Der Mangel an Signifikanz, der aus der Kontingenz heterogener Ereignisketten resultiert, kehrt sich dabei um in eine trendige Buntheit, die den Idealen zeitgenössischer Grafik-Designer ziemlich nahe kommt.

Eine weitere Arbeit, ausgeführt als Wandmalerei, experimentiert mit Methoden von Werbetextern, und zwar in der Anwendung auf das Kommunistische Manifest von Karl Marx. Die entsprechende Zielvorgabe wäre die Suche nach zeitgemäßeren und unter heutigen Bedingungen wirksameren Formulierungen für diesen Standard der Ideologiekritik. Der Text wurde dafür zunächst in seine einzelnen Bestandteile zerlegt, und jeder Begriff bzw. jede Redewendung durch sein oder ihr Antonym ergänzt. An die Wand wurden die resultierenden Satzgebilde in den Umrissen einer Europa-Karte gemalt, wobei die Farben Rot und Blau jetzt Original- bzw. Alternativtextstellen markieren. Aus dieser Vorlage könnte man nun, sich Stelle für Stelle jeweils zwischen rotem und blauem Element entscheidend, einen neuen Text generieren, der höchst individuell oder auch höchst situationsangepasst zu sein verspräche. Braucht nicht heute jeder sein eigenes Manifest? Die Frage nach allgemeingültigen Aussagen und kollektiv verbindlichen Formulierungen, wenn nicht nach Dogmen, wird also auch hier wieder im Stil postmoderner Diskurse zurückgewiesen. Allerdings reicht der subtile Witz von Société Réaliste noch ein Stück weiter: bis zu den strukturellen und medialen Vorgaben, die derartige individuelle Profile erst ermöglichen, indem sie bestimmte Bezugsgrößen, Operationen und Optionen definieren.

Der Titel der Ausstellung gibt dazu einen zusätzlichen Hinweis. „London View” bezieht sich auf den historischen Ort, an dem das kommunistische Manifest verfasst wurde, und ist in Verbindung mit der Tatsache zu sehen, dass zu dieser Zeit London beinahe als einzige Hauptstadt in Europa nicht in revolutionären Umbrüchen oder in deren Nachwehen begriffen war. Einerseits also vielleicht nicht der ungeeignetste Ort, um die jene Zeit beherrschenden Kräfte und ihre Widersprüche auf einen allgemeinen Nenner zu bringen, andererseits durch seine Position außerhalb des Geschehens von seiner eigenen Voraussetzung, dem revolutionären Subjekt, getrennt. Aber auch diese paradoxe Logik der Abstraktion ist Teil der Herausforderung, wenn man nach Konzepten und Ansatzpunkten für eine Welt sucht, die den Horizont von avantgardistischen Design-Labors und kreativen Werbeagenturen überschreitet.

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Michael Hauffen

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