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Otobong Nkanga
Interview


»Acts at the Crossroads« war eine der jüngsten Einzelausstellungen überschrieben, und das Ansetzen an den Knotenpunkten aktueller Entwicklungen bedeutet für die Werke von Otobong Nkanga vor allem, dass sich psychische und ökonomische, ökologische und ästhetische Ebenen auf eine Weise überlagern, die durch die Suche nach Chancen für Erhalt und Wiedergewinnung von Lebensräumen motiviert sind. Weder der sinnliche Reichtum und die grandiose Inszenierung brisanter Themenkomplexe noch die Integration einer Vielfalt von Medien und Beteiligten bei der Herstellung der Werke sind reiner Selbstzweck, sondern sie sind Merkmale der Intention, die Grenzen selbstgefälliger Betrachtung mit Bedacht zu überschreiten und die Sorge um fragile Subjektivitäten hier und jetzt mit objektiver Praxis zu verbinden. Die Suche nach alternativen Formen selbstorganisierter Produktivität erweist sich denn auch als durchaus vereinbar mit zeitgenössischer Kunst auf höchstem Niveau, ja vielleicht ist es sogar der einmal mehr und einmal weniger offensiv vorgetragene Wille, auch kunstintern vorhandene Grenzen herauszufordern, der in diesen Zeiten zählt.
Das folgende Interview fand zur Eröffnung der Ausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin statt, wo die Künstlerin mit Bildern, Installationen und einem Projektraum zu erleben ist.

Michael Hauffen: Oft ist die erste Frage in einem Interview: woher kommst du, wo lebst du? Was dich betrifft, ist deine Herkunft einerseits aufschlussreich, andererseits hinterfragst du ja auch die Vorannahmen, die mit dieser und ähnlichen Fragen verbunden sind. Was würdest du also auf eine so plumpe Frage antworten?

Otobong Nkanga: Es ist eine unschöne Frage, aber man muss darauf antworten.
Die Sache mit dem Ursprung ist allerdings aufschlussreich. Es kommen viele Assoziationen hoch, wenn man solche Antworten hört. Ich lebe in Antwerpen. Ich bin Nigerianerin und ich bin Belgierin. Ich habe also beide Nationalitäten. Und ich denke, wenn man anfängt, Fragen darüber zu stellen, woher jemand kommt, dann soll das irgendwie helfen, eine bestimmte Vermutung, die man von einer Person hat, zu verorten. Ich bin viel mehr daran interessiert, wie die Menschen leben. All diese Konstrukte wurden gemacht, um Menschen in Container zu stecken, und nicht, um den Blick darauf zu richten, was sie tun. Es geht nicht darum, jemanden danach einzuordnen, woher er kommt. sondern darum, diese Art von Sichtweisen zu erweitern und über ein bestimmtes Gebiet hinauszublicken.

MH: Wir modernen Stadtmenschen kennen das Land (einmal abgesehen vom Tourismus) vor allem in Form von Produkten, die dort gewonnen werden und in Form von Landkarten, die uns seine Topologie zeigen. Kann man sagen, dass es dein Hauptanliegen ist, diese reduzierte und distanzierte Perspektive als Voraussetzung von Naturzerstörung und Inhumanität zu hinterfragen?

ON: Ich denke, die Frage verleitet einen, nur an Umweltzerstörung und Unmenschlichkeit zu denken. Aber ich habe gar nicht ein Thema, das mich hauptsächlich beschäftigt. Ich habe viele. Meine Fragen beziehen sich eher darauf, wie wir über Orte denken, wie wir uns innerhalb dieser lokalen Situiertheit verhalten. Sicherlich auch darüber, wie Dinge zerstört werden, aber genauso sehr darüber, wie man für die Dinge sorgt. Was sind die Rückstände der Geschehnisse verschiedener Zeiten, die verschiedene Orte und Menschen betroffen haben? Die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, der Boden, auf dem wir gehen, und wie denken wir über Möglichkeiten von Heilung und Schutz nach, um Orte erträglich zu machen, die unerträglich sein könnten. Die Welt entwickelt sich in verschiedensten Formen, in der Politik, in der Ästhetik, der Umwelt, und für mich ist das nicht nur eine negative Entwicklung, ich denke auch an das Positive. Es ist viel leichter, die Dinge zu betrachten, wenn sie nicht funktionieren. Wir zeigen zu selten, wenn etwas positiv ist oder wenn etwas in Bewegung kommt. Ich denke darüber nach, was uns menschlich macht und was uns verbindet, damit wir uns über unsere kulturellen Differenzen hinweg verstehen.

MH: Auch wenn wir uns genauer ansehen, in welche Kreisläufe Produkte eingebunden sind, aus welchen verschiedenen Quellen und Ressourcen sie sich zusammensetzen, und welche Geschichte ihnen vorausgeht, oder welche Folgen zu erwarten sind, bleibt immer noch vieles im Dunklen. In deinen Arbeiten werden diese unsichtbaren Kräfte und Strukturen gerade deshalb spürbar, weil du verschiedene Faktoren in abstrakter Form darstellst und sie mit anderen unvermittelt konfrontierst.

ON: Ich denke, die Vorstellung von dem, was wir nicht sehen, was nicht greifbar ist, und der Versuch, das zu verstehen, ist ein ganz entscheidender Teil des Nachdenkens darüber, wie die Welt funktioniert. Für mich besteht die Art und Weise des Verstehens darin, Verbindungen zu ziehen und zu verstehen, was unter der Oberfläche geschieht. Wie kann etwas, das in Australien passiert, etwas bewirken, das in Namibia oder Sambia passiert. Wir beginnen zu verstehen, dass die Bewegungen von Menschen, die Bewegungen aus wirtschaftlichen Gründen oder aus welchen auch immer, auch die Wanderung von Wissen bewirken. Die ersten Bergleute kamen aus beispielsweise Cornwall und gingen dann in verschiedene Teile der Welt. Sie hatten ein spezielles Wissen und eine spezielle Bergbautechnologie. Sie zogen in die Staaten, zogen in verschiedene Teile Afrikas, gingen nach Australien und brachten ihre Technologien mit. Das geschah vor zwei- oder dreihundert Jahren, und beeinflusst uns heute noch. Diese Einflüsse sind abstrakt, man sieht sie nicht direkt. Die Kunst ist in der Lage, bestimmte Dinge, die man fühlt, greifbar zu machen, auch was man nicht weiß, wo man unsicher ist. Ich denke zum Beispiel an Goya: Nehmen Sie sein Bild Der Riese, der einen Menschen frisst. Damals tobte ein Krieg. Und dieses Monster ist der Krieg, der die Menschheit auffrisst. Die Kunst ermöglicht es uns, über Dinge zu sprechen, die grundlegend wichtig sind. Weshalb Regime, die anfangen, schädlich oder extremistisch, faschistisch oder was auch immer zu werden, als eine ihrer ersten Handlungen daran gehen, die Künstler loszuwerden.

MH: Du verwendest seit geraumer Zeit oftmals Wandteppiche, kombiniert mit Fotoelementen und weiteren Materialien. Der Entstehungsprozess, die Herstellung und die verwendeten »Stoffe« erzählen dabei ihre je eigene Geschichte; sie bilden weitere Schichten des Kunstwerks.

ON: Ich arbeite seit 2010 mit Wandteppichen in der Art und Weise, wie man sie hier sieht. Aber mein Interesse an Garn und Stoffen begann schon in meiner Teenagerzeit, als ich mit meiner Mutter arbeitete und Batiken anfertigte. Ich habe das Design für die Stoffe entworfen. Ich ging auf den Markt, um Chinon, Organza und Seide zu kaufen, und begann zu verstehen, wie welcher Stoff funktioniert, wenn man ihn färbt. Aber mein Interesse an der Tapisserie kam auch daher, dass ich an einem Ort wie Belgien lebte oder in Frankreich studierte - in Ländern, die Tapisserien weben. Wandteppiche werden oft als Mittel verwendet, das Narrativ eines Nationalstaates oder reicher Familien zu unterlegen. Meine Wandteppiche sind dagegen eine Art, den Geschichten, die sich mit sozialen Dingen befassen, eine stoffliche Form zu geben. Wenn es also etwa darum geht, die verschiedenen Teile von Pflanzen, oder Arten ihres Gebrauchs zu zeigen, im Rahmen von ethno-botanischen Fragestellungen. Ich experimentiere mit der Frage, was ein Wandteppich ist, was er im sozialen Kontext bedeutet. Wie können wir dabei Poetik und Politik zusammenführen und verschmelzen lassen, um verschiedene Schichten und Strukturen innerhalb der Gesellschaft zum Sprechen zu bringen?

MH: In der Arbeit Manifest of Strains wird der Bereich der visuellen Wahrnehmung überschritten: durch verschiedene Effekte, die einen großes kreisförmiges Metallobjekt in starke Spannung versetzen und seine Festigkeit auch hörbar in Frage stellen.

ON: Manifest of Strains war eine der frühesten Arten, sich ein Werk vorzustellen, das ständig aktiv ist. Das Glas ist hier gegen das Metall verschlossen; es enthält Luft und schließt sie ein. Es ist wie ein Ort des Erstickens. Ein anderer Teil, in dem der Stab auf eine sehr hohe Temperatur erhitzt wird, lässt an Brandherde denken oder an Emotionen, die so erhitzt sind, dass sie gleich ausbrechen. Und wieder ein anderer Teil, über dem ein Stein schwebt, das ist dann ein Ort, an dem ein Körper in höhere Sphären abdriftet. Oder die Korrosion und die Flüssigkeit, die das Metall an einer Stelle auffrisst, so dass am Ende des Tages die ganze Struktur auseinander fällt. Dann der Teil der Skulptur, der atmet und immer wieder heftig Luft ausstößt, so dass die Skulptur in dem einen Teil die Luft festhält und in dem anderen Teil vollständig ausatmet und dabei einen lauten Ton hören lässt. Der Ton hängt von dem Zustand des Rohrs ab, das mit der Hitze auch die Farbe von Schwarz nach Silber ändert. Ich dachte, dass man auf diese Art über all die verschiedenen Aspekte emotionaler Zustände etwas aussagen könnte. Es bezieht sich also hauptsächlich auf den inneren Kampf und das innere Ringen. Man muss sich auf die Arbeit einlassen, sie erschließt sich nicht sofort, das erfordert Zeit.

MH: Dein Beitrag zur letztjährigen Sharjah Biennale, Aging Ruins Dreaming Only to Recall the Hard Chisel from the Past, entfaltet seine Intensität, durch Konzentration auf die Stille eines Ortes. Der Raum ist zum Himmel hin offen, während am Boden einige mit farbigem Wasser gefüllte Krater gemischte Gefühle hervorrufen: Die Farbe könnte sowohl auf toxische als auch auf magische Eigenschaften hinweisen.

ON: Die Arbeit ist sehr ortspezifisch. Es dreht sich vor allem um die Emirate und ihre Beziehung zur Entsalzung von Wasser. Man kommt in eine desolaten Raum, in dem eine Palme steht. In diesen Kratern befindet sich Wasser, das in verschiedenen Abstufungen getönt ist, den Farben all dieser Teiche, die unterschiedliche Salzkonzentrationen haben. Und die Palme spricht über die Liebe, die sie für das Salzwasser empfindet, ohne zu bemerken, dass sie das Salzwasser umbringen wird. Und es gibt diese Lieder, die wir für den erhofften Regen singen. Hier ist das Lied auf Arabisch, und die Hoffnung auf Regen ist die Hoffnung auf Süßwasser, das das Salz in den Teichen vermindert. Es ist eine Neun-Kanal-Installation mit einem gurgelnden Klang, um über Wasser nachzudenken, über das Trinken und das Schlucken von Wasser, das Ertrinken. Aber für mich war es vor allem ein Werk, in dem es um Sucht geht. Eine Sucht, die langsam tötet - ohne sich dessen bewusst zu sein.

MH: Viele deiner Ansätze in Bezug auf Medien oder Themen bis zur Einbeziehung des Publikums kommen im Projekt Carved to Flow zusammen. Und sie gehen darüber hinaus. Da gibt es eine Seife, die nach deinen Vorgaben produziert wurde. Sie wurde auf der documenta 14 zum Verkauf angeboten - aber nicht als normale Ware, man musste sich auch verbal dazu äußern.

ON: Für mich bringt das Projekt Carved to Flow all die Fragen zusammen, die ich mir die ganze Zeit über gestellt habe, von der Extraktion von Ressourcen, bis hin zur Extraktion von Wissen - all die verschiedenen Arten von Extraktionen. Es geht darum, Wege zu finden, wie Dinge neu vermittelt werden können – um reparieren und pflegen. Und darum, das praktisch zu tun. Das Projekt befasst sich hauptsächlich mit der Frage, wie ein Kunstwerk eine tragende Struktur sein kann, eine Struktur, mit der auch das Wissen geteilt wird. Was wird herausgebracht und was wieder zurückgelegt? Aus welchen Bestandteilen, und wie man etwas herstellt und wie es sich auf den Boden, wie es sich auf die Gewässer auswirken kann. Es durchdenkt also wirklich jede Entscheidung, die man im Rahmen des Projekts macht, und das soll zu all denen gebracht werden, die an dem Projekt mitarbeiten. Wie kümmert man sich um alle Beteiligten, sei es in der Kunst oder außerhalb der Kunst. Der mentale Zustand, der emotionale Zustand, all das wäre mit Rücksicht zu behandeln.
Jetzt haben wir eine Stiftung in Nigeria gegründet, und zwar in dem Bundesstaat, aus dem meine Mutter und mein Vater stammen, nämlich Akwa Ibom. Meine Eltern leben nicht mehr, und wir lebten an anderen Orten, aber ich besuchte ihn als Kind, und ich besuchte ihn später. Zuletzt war ich 1981 dort, als mein Vater starb. Und so kehrte ich 2018 in das Dorf meines Vaters zurück, und als ich das Land betrat, stand für mich außer Frage, dass dies der Ort ist, der zu Carved to Flow passt. Also kauften wir dort Land und fingen an, mit der Stiftung zu arbeiten. Wir hielten nach Menschen Ausschau, die wissen, wie man Dinge herstellt. Das Wissen wird geteilt, es kommt in ein Archiv, und das Land wird nachhaltig genutzt. Es geht um Dinge, die für regenerative Zwecke gut sind, Dinge, um etwas herzustellen, und es scheint, dass der Ort sehr fruchtbar ist. Wir produzieren Raphia, verschiedene Arten von Öl, genauer gesagt Palmöl. Ein weiterer Teil des Projekts ist ein Kunstraum in Athen, der sich ebenfalls Akwa Ibom nennt. Es ist eine Möglichkeit, Geographien zu erweitern. Athen war der Ort, an dem das Projekt ursprünglich seinen Anfang nahm.
Hier in Berlin haben wir den Arbeitsraum im Erdgeschoss, und hierher haben wir verschiedene Erden aus Berlin gebracht, Erden, die mit dem Umfeld zu tun haben, sowie die Überreste von abgerissenen Gebäuden, um darüber nachzudenken, wie man situierte skulpturale Arbeit machen könnte, und wir haben verschiedene Leute eingeladen, Teil des Prozesses zu sein, Architekten, Studenten. Wir wollen gemeinsam sehen, was es bedeutet, mit Erde, mit dem Boden zu arbeiten, auch in die Zukunft gerichtet. Wie geht man mit den Dingen um, die man wegnimmt, und wie mit den Dingen, die man zurücklässt, die abgebaut und zerstört werden - das alles sollte genau beachtet werden.


Otobong Nkanga
geboren 1974 in Kano, Nigeria; lebt und arbeitet in Antwerpen, Belgien.

AUSBILDUNG
Kunststudium an der Obafemi-Awolowo-Universität in Ile-Ife, Nigeria, in Paris an der Ecole Nationale Supérieure des Beaux-Arts, an der Rijksakademie van beeldende kunsten in Amsterdam (2002-2004) und an Dasarts, Advanced Research in Theatre and Dance Studies, Amsterdam (2005-2008).

Artist-in-Residence beim DAAD, Berlin (2014) und Artist-in-Residence im Martin-Gropius-Bau, Berlin (2019).

EINZELAUSSTELLUNGEN
2019 Acts at the Crossroads, Zeitz MOCAA, Kapstadt; From Where I Stand, Tate St. Ives; 2018 A Lapse, a Stain, a Fall, Ar/geKunst, Bozen; To Dig a Hole that Collapses Again, Museum of Contemporary Art (MCA), Chicago; 2017 Voices (Wetin You Go Do?), The Tanks at Tate Modern, Blavatnik Building, London; The Breath from Fertile Grounds, Temple Bar Gallery, Dublin; The Encounter That took a Part of Me, Kunsthal Aarhus; 2016 The Encounter That took a Part of Me, Nottingham Contemporary, Nottingham; MATRIX 260, University of California, Berkeley Art Museum and Pacific Film Archive (BAMPFA); Landversation Beirut, Beirut Art Center; 2015 Diaoptasia, Tate Modern, London; Bruises and Lustre, Museum voor Hedendaagse Kunst Antwerpen (M HKA), Antwerpen; Comot Your Eyes Make I Borrow You Mine, Kadist Art Foundation, Paris; Crumbling Through Powdery Air, Portikus, Frankfurt.

GRUPPENAUSSTELLUNGEN (Auswahl)
2018 Cosmogonies, au gré des éléments, Musée d’art moderne et d’art contemporain (MAMAC), Nizza; General Rehearsal, Moscow Museum of Modern Art, Moskau; 2017 Documenta 14, Athens / Kassel; I am a native foreigner, Stedelijk Museum Amsterdam; Take Me (I’m Yours), Pirelli Hangarbicocca, Mailand; Dialogues, Manifesta – The European Biennial of Contemporary Art, Amsterdam; 2016 Life Itself, Moderna Museet, Stockholm; 2016 Museum on/off, Centre Pompidou, Paris; 2015 13th Biennale de Lyon, La vie modern, Lyon. 

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Michael Hauffen

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