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Esra Ersen
A Possible History


In den Fokus rückt Kultur vor allem dann, wenn es zur Begegnung mit anderen Kulturen kommt. Dann werden die unausgesprochenen Regeln des Zusammenlebens auf einmal sichtbar und werfen Fragen auf: Darf frau das? Ist das niedriges oder hohes Niveau? Ist eine solche Regel nützlich oder bedrohlich? So manches von dem, was gewohnheitsmäßig gefordert wird, hat ja mit Empfindlichkeiten zu tun, die respektvoll umgangen oder übersehen werden müssen, um die Ordnung bzw. den Schein zu wahren. Aber wo genau enden die individuellen Freiheiten, wann schlägt das Lachen über Merkwürdigkeiten in Diskriminierung um? Und umgekehrt: welche Selbstbilder werden erlittener Diskriminierung entgegengesetzt?

Esra Ersen konzentriert sich in ihren Arbeiten auf solche Fragen aus der Perspektive einer türkisch-deutschen Künstlerin, wobei die besondere Schärfe ihres Einblicks in kulturelle Verwicklungen schon am Ort ihrer Herkunft, in Istanbul entstanden ist – seit jeher eine Stadt der vielen Kulturen.

Die Basis ihrer Arbeiten bildet ein großes Archiv von Karteikarten, auf denen sie historische Dokumente sammelt, die mehr oder weniger in Zusammenhang mit ihrer Biografie stehen, und die sie mit persönlichen Erinnerungen, illustriert durch Zeichnungen, kombiniert. In drei Videos werden solche Karten zu einem eindringlichen Geschichtsdiskurs verbunden, der zwischen subjektiven und objektiven Einzelheiten oszilliert und sie in einen großen Bogen spannt.

Der größte Teil der Dokumente konzentriert sich auf den Zeitraum der letzten 150 Jahre, was sich in etwa mit der großzügigen Verfügbarkeit von Fotodokumenten decken dürfte, die ein illustres Panorama jenes Teils der Welt ergeben, der sich vom Osmanischen Reich zur türkischen Nation entwickelt hat. Aber auch Studien zur Geschichte des Narrativs einer türkischen »Rasse« und eine thematisch verknüpfte Reise nach Sofia, die Ersen unternommen hat, nehmen dabei breiten Raum ein.

Die Systematik und der Umfang der Kartei verdeutlichen den Willen der Künstlerin, mit geduldiger Sorgfalt an die Sache heranzugehen, und sowohl Fotografien als auch Zeichnungen fordern durch ihren objektiven Charakter von den Betrachtenden sachliche Konzentration und manche werden denken, sie hätten historisches Lehrmaterial vor Augen. Allerdings taucht inmitten der verblassenden Archivbilder häufig ein willkürlich darüber gemalter großer Farbfleck auf, mit dem auch immer wieder große Teile der Fotografien überzogen sind: eine blaue transparente Tinte. Sie erschließt sich nur bei genauem Hinsehen als Verweis auf eine prägende Kindheitserinnerung: Damals (im Zusammenhang mit den Geschehnissen der Zypernkrise) wurden in der Stadt alle Lichtquellen mit blauer Folie überzogen, »damit die Stadt nicht von den blaublinden B-24-Bombern getroffen werden konnte.« Oder spielt es auf die blaue Fahne an, mit der der Franzose Léon Cahun 1877, bei der Suche nach der Herkunft des sagenhaften Geschlechts der Türken, seine wilden, aber folgenreichen Fantasien illustriert hat? Zusammen mit dem Untertitel »Blaupause« stehen diese Tuscheflecken jedenfalls für den subjektiven Impuls der historischen Studien – vielleicht für den Wunsch nach Wahrheit.

Aber auch zahlreiche weitere Details aus ihrer eigenen Erfahrung steuert Ersen bei: etwa ihre frühe Faszination für das Stricken, und wie modische Strickmuster in die symbolische Ordnung »verstrickt« sind, wenn sie etwa von berühmten Filmstars oder dem legendären, androgyn auftretenden Sänger Zeki Müren getragen wurden.

Einen anderen thematischen Fokus bildet die Wende von der islamischen zur modernen westlichen Kultur, wobei vor allem in Istanbul die Autorität des Islam schon immer mehr oder weniger relativiert war – durch die zahlreichen anderen Religionen und etliche tolerierte Minderheiten mit ihren eigenen Traditionen. Allerdings kam diese Toleranz offenbar eher von oben. Beispielsweise haben die Kolonialmächte durch moderne Bildungsinstitute nachhaltigen Einfluss genommen. Was bedeutet das für die Situation der Frauen? Aufnahmen aus Mädchenpensionaten und später aus einer Kunstakademie – nur für Frauen – belegen den Einfluss westlicher Rollenbilder. So verwundert es nicht, wenn im weiteren Verlauf weibliche Akteure (wie Halide Edip) nicht nur die Emanzipation maßgeblich vorantreiben.

Alles das – also auch diverse selbstbewusst in Erscheinung tretende ethnische Gruppierungen, beeindruckende Architekturen, die großen Züge der politischen Entwicklung der Region mit ihren Kriegen bis hin zum Erstarken des türkischen Nationalismus – wird zwar streng dokumentarisch, aber eben auch als überquellender Reichtum von Bildern einer produktiven und kulturell hochrangigen Region präsentiert.

Dass es bei den Widersprüchen, bei den Merkwürdigkeiten und Dynamiken sozialer und symbolischer Strukturen oft um die Verbindungen großer Machtpolitik mit imaginären Subtilitäten geht, setzt Ersen dann in spektakulären Arbeiten sinnfällig und witzig um. Ihre Installation »Karoussel« besteht aus dem Mobiliar einer Schulklasse: Reihen von Bänken, in bühnenreifer Übersichtlichkeit angeordnet, auf denen sich anstelle der Schüler*innen nur rotierende Köpfe aus rotem Ton befinden. Sie sind das Ergebnis eines Workshops, und wurden modelliert, nachdem den Beteiligten das »Türkenkopfstechen«, erklärt worden war: Im vormaligen Wien verwendete man diesen Begriff, wenn Kavalleristen zu Übungszwecken mit Säbeln auf groteske Attrappen einhieben. Die Frage dürfte sein, was davon auch lange nach dem Ende des Osmanischen Reichs noch in unseren Köpfen herumspukt, und mit welchen Gefühlen und Ängsten es sich womöglich verbindet.

Die neueste Arbeit lenkt den Blick auf eine ganz andere Merkwürdigkeit: während ihres Aufenthalts in Rom fielen der Künstlerin immer wieder sorgfältig zusammengekehrte Haufen von Kehricht auf. Sie werden nicht infolge von Nachlässigkeit, sondern als demonstrative Zeichen eines geleisteten und unzureichend honorierten Einsatzes liegengelassen. Vor dem Hintergrund defizitärer staatlicher Strukturen sind es hier die sozialen Akteure selbst, die die gewohnte Ordnung symbolisch herausfordern.

Das Gewebe der unausgesprochenen Regeln und der regelmäßigen Routinen ist womöglich fragiler als wir denken. Und diese kleinen Unstimmigkeiten, diese Momente, in denen etwas nicht stimmt, lassen sich dann als Symptome der Fragilität lesen. Wir sollten sie lieber nicht ausblenden. Im Fall der Kehrrichthaufen spielen der niedrige Status – vermutlich aus Afrika immigrierter Arbeiter*innen – zusammen mit neoliberalen Strukturen niemand anderem als der Mafia in die Hände. Sind es also am Ende viele Kleinigkeiten, die über die großen historischen Entwicklungen entscheiden? Die Ausstellung sieht hier eine Chance: sie setzt auf die möglichen Wendungen der Geschichte, die mit einem genauen Blick von unten beginnen.

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Michael Hauffen

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