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Anne Wodtcke - situations


(please scroll down for english version)

situations

Ein abgerissenes Stück Papier befindet sich in einer Wandecke, auf Augenhöhe, rosa. Es ist Teil einer Installation, einer künstlerischen Setzung in einem Raum, der alle Voraussetzungen eines White Cube erfüllt. Ansonsten sind die Wände leer.

Vielleicht löst eine solche minimalistische Geste bei denjenigen, die die Strategien der ästhetischen Moderne kennen, ja sie inzwischen in routinierter Weise wahrnehmen, kein Erstaunen mehr aus. Der entscheidende Punkt ist jedoch das Gelingen einer authentischen und vollständigen Wiederholung. Doch halt! Die Vollständigkeit weist eine unerwartete Lücke auf. Am Boden fehlt eine Kachel, stattdessen öffnet sich hier der Blick auf einen weiß-blauen Himmel. Auch wenn es sich nur um ein Foto handelt, die Koordinaten hängen in der Luft, der Boden wankt.

Es sind nur geringe Abweichungen vom Gewohnten, aber sie fallen ins Gewicht.
Das rosa Stück Papier ist keine Ikone, aber es hängt wie eine solche in der Ecke. Es wendet sich dem ganzen Raum zu, transversal. Es geht eine Beziehung zu seinem Volumen ein, richtet ihn neu aus. Die Öffnung im Boden tangiert seine Fundamente. Nur ein wenig, aber dezidiert. Es löst einen kleinen Schock aus. Genau so stark wie es nötig ist, um jene unspektakulären Momente zu vergegenwärtigen, die alles verändert haben.

Und es geht weiter. Im angrenzenden Raum breitet sich an der Wand ein großes Rechteck aus, das formal an die triumphalen Beschwörungen von Erhabenheit anknüpft, die sich mit Vorliebe in großformatiger Ölmalerei verwirklichen. Hier ist es dagegen wieder nur Papier, ein paar große, schwarze und rosa Stücke davon, die insgesamt ein virtuelles Tafelbild markieren, indem sie das Weiß der Wand in den Zwischenräumen als eigenständige Binnenformen zur Geltung bringen. Die großzügige Ausdehnung und die diagonalen Bruchlinien, die die Fläche durchziehen, wirken wie natürliche Bahnungen, Kanäle für Energieströme. Das Eindrückliche scheint dennoch ohne Distanzierung auszukommen. Die größte der schwarzen Flächen ist zwar monumental, aber nicht brachial, rundet sich vielmehr zum vertrauenerweckenden Ruhepol. Und wenn man diese eine Form als den Buchstaben »O« liest, lässt sich aus der gesamten Anordnung sogar das Wort »LOVE« herauslesen.

Gegenüber ist ein Kopfkissen mit einem grotesk großen Nagel mittendurch an die Wand geschlagen. Eine entschiedene Manifestation, ein Protest gegen – ja, was genau?

Es wird nicht weiter erklärt, das Kissen bleibt gleichsam im leeren Bedeutungsraum in der Schwebe. Wie alle hier versammelten »Interventionen« will dieser Akt undefiniert, »ohne Titel« bleiben. Am schräg gegenüberliegenden Vorsprung ist (in Bodennähe) ein großes Stück Furnierholz befestigt, ebenfalls ein aus dem Zusammenhang gerissenes Fragment und ebenfalls als willkürlicher Einfall für spontane Interpretationen freigegeben.

Zusammengenommen könnten die spärlichen Zeichen eine detektivische Leistung herausfordern, könnten Spuren einer sie umfassenden, zu entschlüsselnden Botschaft sein. Sie könnten beispielsweise etwas in Richtung einer feministischen Konterkarierung bürgerlicher Normalität zum Ausdruck bringen. Aber sie können auch gerade der Versuch sein, solche Deutungen zwar zu evozieren, sie jedoch gleichzeitig zu suspendieren: weil sie immer zu schnell oder zu einfach sind und immer am eigentlichen Kern vorbeigehen. Könnte dieser Kern etwa die Suche nach dem Schönen und seiner Ungreifbarkeit sein?

Die Verweigerung von Eindeutigkeit wäre dann ein subtiles Spiel mit unausgesprochenen Erwartungen, die eine Kultur, eine Kulturszene, das Betriebssystem Kunst oder einen der anderen denkbaren Kon-Texte, in dem sich diese Ausstellung situiert, zugleich strukturieren und blockieren.

Derartige Grübeleien brechen schnell wieder ab, denn es gibt ja noch andere »Stücke«, die neuen Schwung in die Betrachtung bringen. Da ist ein alter Plattenspieler, ein überkommenes Medium analoger Tonkonserven. Eine Schallplatte liegt auf und ist schnell in Betrieb genommen. Die Musik bietet vertraute Klänge, lässt den popkulturellen Mainstream einfließen. Aber das ist nicht alles. Eine weitere Klangebene bilden Kratzgeräusche, die ebenfalls deutlich zu hören sind. Es handelt sich um Zeichnungen, die in die Schallplatte geritzt sind und die die Nadel des Geräts in Ticks und Klicks übersetzt. Sie beginnen keinen Dialog mit der Musik, sondern bilden eine zweite Ebene, die nicht harmoniert, sondern insistiert. Hier wird kein Konsens angestrebt, sondern ein ritualisierter Vergnügungsstandard durch einen unvereinbaren pochenden Impuls konterkariert.

Gegenüber ziehen sich gelbe Tennisbälle als Relief aus Halbkugeln in einer weit ausholenden Bewegung über eine große Wand hin, und über sie hinaus. Ein einzelner Tennisball liegt auf dem angrenzenden Sims, eine leichte Berührung würde ihn fallen und in den Raum springen lassen. Auf einem anderen direkt darunter ist der Markenname »HEAD« als nom trouvé zu lesen. Also wieder einem trivialen Zusammenhang entnommene Elemente, die sich für die Formation »wilder« Assoziationen anbieten.

Hinter einer Türe in einer kleinen Kammer findet sich schließlich noch ein Video, das jeweils nur eine Person auf einem kleinen Bildschirm ansehen kann – isoliert, konzentriert. In seiner filmischen Realität herrschen völlig andere Gesetze, was schon rein optisch auf den ersten Blick deutlich wird. Es handelt sich um schwarz-weiß-Aufnahmen und die meisten sind zudem ins Negativ konvertiert. Eine weitere Stufe der Verfremdung bilden die ungewöhnlichen Nahaufnahmen, die alltägliche Gegenstände in surreal bizarre Szenerien verwandeln. Undefinierbare Geräusche unterfüttern diese Konfrontation mit der Nachtseite der Wirklichkeit noch zusätzlich. Es ist kein Blick in Zukunft oder Vergangenheit, der hier eröffnet wird, sondern einer in die abseitigen Regionen der Normalität, die sich rätselhaft, verquer und hektisch darstellen. Da sind etwa in einem Bassin schwimmende Kugeln, die von einem aus Richtung der Kamera kommenden Strahl in Bewegung gehalten werden, aber ein geschlossenes System bilden, und wie eine Gruppe von Ungeduldigen einen Ausgleich sich widersprechender Impulse zu suchen scheinen. Vor allem diejenige Kugel, auf die der Strahl trifft, wird durch ihn nicht vertrieben, sondern gewaltsam fixiert. Wie eine Traumsequenz könnte die banale Konstellation als Fantasie zu verstehen sein, die etwas sagen will. Vor allem, weil sie wiederholt auftritt, ein ungestilltes Drängen signalisiert. Zu allererst eröffnen die aneinandergeschnittenen Szenen jedoch einen rätselhaften Raum, eine unbestimmte Leere, eine zusätzliche Dimension, die dem Sinn vorausgeht. Nicht anders fasziniert der düstere Blick aus dem Fenster eines fahrenden Taxis. Es passiert immerzu eine Brücke über einer Stadtlandschaft, deren Stahlträger ein krasses Hell-Dunkel-Stakkato erzeugen.

Zurück im hellen Raum der Galerie fallen jetzt ein paar schwarze Stangen auf, irgendwo abgeschraubt, mit halb herausgedrehten Schrauben. Sie lehnen in der Ecke – Relikte aus dieser gerade verlassenen Welt? Ein kleineres Stück davon ist so an der Wand befestigt, dass es möglich ist, einen Arm darauf zu stützen – ein Hinweis auf die Begrenztheit der Höhenflüge, auf die Erschöpfung, die dem Flow folgt. Es geht ja schließlich auch nicht um Höchstleistungen. Ein Stück weiter bietet sich eine Nische mit einer Fototapete an, um, umschlossen von erfrischendem Gelb, wieder Energie zu tanken? Oder sollen Besucher*innen der Galerie einfach einmal die Gelegenheit bekommen, in Ruhe gelassen zu werden?

Bei aller Schärfe und Intensität, geben doch auch Nonchalance und Unbekümmertheit den Ton an, mit dem hier helle und dunkle Dimensionen subjektiver Erfahrung evoziert, adressiert und provokant einander entgegengesetzt werden. Sie machen es möglich, ohne Widerstreben zu verweilen, vielleicht sogar zu genießen, was daran erst auf den zweiten Blick bereichernd ist. Es ist dieses Minimum präziser Überschreitung, das den Alltag und seine geregelten Ansprüche hier und jetzt aussetzt, das ein unerwartetes Mehr erschließt und das kontrollierte Ich für den Moment zur Chimäre werden lässt.


--------------------------------------- (english version, Translation: Robin Burke) ---------------------------------------

situations

A torn piece of paper is in the corner of a wall, at eye level, pink. It is part of an installation, an artistic setting in a room that fulfills all the requirements of a white cube. Otherwise, the walls are empty.
Perhaps such a minimalist gesture no longer causes astonishment among those who are familiar with the strategies of aesthetic modernism, indeed who now routinely perceive them. The decisive point, however, is the success of an authentic and complete repetition. But wait! There is an unexpected gap in the completeness. A tile is missing from the floor; instead, the view opens up onto a white-blue sky. Even if it’s just a photo, the coordinates are hanging in the air, the floor is swaying.

They are only minor deviations from the usual, but they are noticeable.
The pink piece of paper is not an icon, but it hangs in the corner like one. It faces the whole room, transversally. It enters into a relationship with its volume, realigns it. The opening in the floor touches its foundations. Just a little, but decidedly. It triggers a small shock. Just as strong as it needs to be to bring to mind those unspectacular moments that changed everything.

And it continues. In the adjoining room, a large rectangle spreads out on the wall, formally echoing the triumphant evocations of sublimity that are preferably realized in large-format oil painting. Here, on the other hand, it is again only paper, a few large, black and pink pieces of it, which altogether mark a virtual panel painting by accentuating the white of the wall in the interstices as independent internal forms. The generous expanse and the diagonal fracture lines that run through the surface appear like natural pathways, channels for energy flows. Nevertheless, the impressive seems to manage without distancing. Although the largest of the black surfaces is monumental, it is not brute, but rather rounds itself off into a confidenceinspiring haven of peace. And if you read this one shape as the letter ”O”, you can even make out the word ”LOVE” from the entire arrangement.

Opposite is a pillow on the wall with a grotesquely large nail hammered through the middle of it. A resolute manifestation, a protest against - yes, but what exactly?
No further explanation is given; the pillow remains suspended in an space empty of meaning, as it were. Like all the ”interventions” assembled here, this act wants to remain undefined, ”untitled”. A large piece of plywood is attached to the diagonally opposite projection (near the floor), also a fragment torn out of context and also left open to spontaneous interpretation as an arbitrary idea. Taken together, the sparse signs could challenge a detective effort, could be traces of a message to be deciphered.

They could, for example, express something in the direction of a feminist countering of bourgeois normality. But they can also be an attempt to evoke such interpretations, but at the same time to suspend them: because they are always too quick or too simple and always miss the real point. Could this, at its core be the search for beauty and its intangible nature?

The refusal of unambiguity would then be a subtle game with unspoken expectations that simultaneously structure and block a culture, a cultural scene, the art operating system or one of the other conceivable con-texts in which this exhibition is situated.

Such musings quickly break off again, as there are other ”pieces” that bring new momentum to the contemplation. There is an old record player, an old-fashioned relic & medium of analog sound storage. A record is playing and is quickly put into operation. The music offers familiar sounds, incorporating the pop-cultural mainstream. But that’s not all. Another sound layer is formed by scratching noises, which can also be clearly heard. These are drawings scratched into the record, which the needle of the device translates into clicks and ticks. They do not start a dialog with the music, but form a second level that does not harmonize but insists. No consensus is sought here, but a ritualized standard of pleasure is thwarted by an irreconcilable throbbing impulse.

Opposite, yellow tennis balls are drawn as a relief of hemispheres in a sweeping movement across and beyond a large wall. A single tennis ball lies on the adjacent ledge; a light touch would cause it to fall and bounce into the room. The brand name ”HEAD” can be read as a nom trouvé on another ledge directly below it. Again, elements taken from a trivial context that lend themselves to the formation of ”wild” associations.

Finally, behind a door in a small chamber, where only one person at a time can watch a video on a small screen - isolated, concentrated. In this cinematic reality, completely different laws prevail that becomes clear at first glance. The shots are black and white and most of them have been converted to negative. The unusual close-ups, which transform everyday objects into surreally & bizarre scenes, represent a further level of alienation. Undefinable noises further underpin this confrontation with the night side of reality. It is not a glimpse into the future or the past that is opened up here, but one into the remote regions of normality, which present themselves as mysterious, distorted and hectic. There are balls floating in a pool, for example, which are kept in motion by a beam coming from the direction of the camera, but which form a closed system and, like a group of impatient people, seemingly seeking a balance between contradictory impulses. Above all, the sphere hit by the beam is not driven away by it, but forcibly immobilized. Like a dream sequence, the banal constellation could be understood as a fantasy that wants to say something. Above all because it occurs repeatedly, it signals an unquenched urge. First and foremost, however, the scenes cut together open up an enigmatic space, an indeterminate emptiness, an additional dimension that precedes meaning. The gloomy view from the window of a moving cab is no less fascinating. A bridge constantly passes over an urban landscape, its steel girders creating a stark staccato of light and dark.

Back in the bright room of the gallery, a few black poles now catch the eye, unscrewed somewhere, with screws half turned out. They are leaning in the corner - relics from this recently abandoned world? A small piece of it is attached to the wall in such a way that it is possible to rest an arm on it - a reference to the limitations of the flights of fancy, to the exhaustion that follows the flow. After all, it is not about peak performance. A little further on, there is a niche with a photo wallpaper where you can recharge your batteries, surrounded by refreshing yellow? Or should visitors to the gallery simply be given the opportunity to be left alone?

Despite all the sharpness and intensity, nonchalance and insouciance also set the tone with which light and dark dimensions of subjective experience are evoked, addressed and provocatively juxtaposed. They make it possible to linger without reluctance, perhaps even to enjoy what is only enriching at second glance. It is this minimum of precise transgression that suspends everyday life and its regulated demands here and now, that opens up an unexpected more and turns the controlled ego into a chimera for the moment.

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Michael Hauffen

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