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Aber hier leben? Nein danke.
Surrealismus + Antifaschismus


München. Wenn es die künstlerische Avantgarde auszeichnet, der krisenhaften gesellschaftlichen Dynamik nicht mit erhabenen Idealen zu antworten, sondern aus der Perspektive der gesellschaftlichen Basis, dann war die Bewegung des Surrealismus vor hundert Jahren ihre rechtmäßige Instanz. Allerdings ging es ihr nicht nur im marxistischen Sinn um die ökonomische Lebensgrundlage, sondern auch um die Verfasstheit moderner Subjektivität und das Trauma der Abstraktion. Sie begriff denn auch Hysterie und Wahnsinn als passende Antworten auf eine repressive Normalität, wobei Psychopathologie und Psychoanalyse als Bezugspunkte für die Verschärfung einer Ästhetik der entregelten Sinne dienten. Das Heterogene und die dunklen Seiten des Trieblebens sollten der instrumentellen Rationalität entgegengesetzt werden. Auch wenn später, unter Bedingungen liberaler Kultur, manche dieser Quellen kreativer Produktivität leicht konsumierbar wurden, und ihr subversives Potential verloren, bleibt davon die genuin dialektische Optik unangefochten, die gerade jenseits des Spektakulären, im alltäglich Rätselhaften den wirklich radikalen Begriff der Freiheit verortet.
Das Ausstellungsprojekt richtet daher den Blick in mehreren Episoden vor allem auf die kreativen Milieus, aus denen heraus die surrealistische Einbildungskraft den Rahmen der Kunst sprengte – als politischer Widerstand, der poetische, intellektuelle und praktische Formen einbezog.
Das Zentrum Paris war auch eine Hauptstadt des Kolonialismus, und während dieser einerseits von surrealistischer Seite entschieden zurückgewiesen wurde – etwa in Form von frühen Protestaktionen anlässlich des Marokkokriegs – wurden Kunstwerke aus den Kolonien als Zeugnisse anderer Kulturen nicht gering, sondern hoch geschätzt. Im Gegenzug fiel der kritische ethnologische Blick auf die eigene nationale Kultur.
Die Herausforderung, den Bereich instrumenteller Vernunft zu überschreiten, und die damit verbundene Gefahr in die Bahnen obskurantistischer Reaktion zu geraten, wurden durch (selbst-)kritische Auseinandersetzung auf hohem intellektuellen Niveau beantwortet, was sich auch in der Vielzahl von Publikationen zeigt. Aber vor allem kann die Ausstellung auf eine große Zahl von kollektiven Projekten verweisen, wie etwa den gemeinsam gestalteten Spanischen Pavillon auf der Weltausstellung 1937 in Paris, von dem ein Modell mit genauen Erläuterungen zu den einzelnen Beiträgen gezeigt wird.
Kleinere Formate, wie die berühmten cadavres exquis, also Zeichnungen, an denen mehrere Künstler*innen in freier Assoziation zusammenarbeiten, um die Neigung zur Homogenität zu brechen, entstanden nicht zuletzt auch immer wieder aus der Notlage heraus, unterwegs und ohne verfügbare Mittel zu sein. Vor allem die Beteiligung am Spanischen Bürgerkrieg, später Verfolgung, Internierung und Flucht infolge des expandierenden Naziregimes, brachte solche Situationen reichlich mit sich.
Dass sich der Surrealismus als international verstand, drückte sich nicht nur im Vorschlag aus, ein nationales Symbol wie den Arc de Triomphe in ein riesiges Pissoir zu verwandeln, sondern auch in der Solidarität mit kommunistischen Bewegungen weltweit. Zudem gab es surrealistische Zirkel in mehreren Ländern. Eine Prager Gruppe wird ausführlich vorgestellt, die dort vor allem nach Beginn der deutschen Okkupation aktiv war. In Mexiko bildete sich ein eigener Kreis von Emigrant*innen. In Kairo bündelten sich Aktivitäten die halb Afrika überspannten.
Deutschland allerdings, war von Beginn an kein guter Ort mehr für die Entfaltung einer Bewegung, die auf das Potential der Moderne setzte. Max Ernst wanderte schon 1922 nach Paris aus, andere Künstler*innen folgten ihm. Den Begriff der „entarteten Kunst” eigneten sich dort manche in umgekehrter Bedeutung an. Außer Wols kehrte nach dem Krieg so gut wie niemand zurück. Was Max Ernst betrifft, sind nur einige seiner Werke dort gelandet, wie das Bild „Der Hausengel”, das eine bizarre menschenähnliche Figur in frenetischer Verzückung zeigt. Die scharfen Umrisse der schreckenerregenden Gestalt, die jedem Optimismus in Bezug auf die condition humaine Hohn spricht, scheinen mit diabolischer Wut ins Fleisch einer tödlichen Weltordnung zu schneiden.
In Marseille, von wo aus zwischenzeitlich ein großer Teil der Mitstreiter den Weg ins Exil zu gehen versuchte, entstand in gemeinsamer Arbeit ein Kartenspiel mit 17 Motiven, das eine Art surrealistisches Anti-System verkörpert. Mystische Züge (Schwarze Sterne für Träume) verbinden sich mit verborgenem Wissen (Schwarze Schlösser), Revolution ( Rote Räder) mit Begehren (Rote Flammen), und als Joker firmiert Père Ubu, der clowneske Tyrann des verehrten Vorläufers Alfred Jarry.
Einige Flüchtlinge verschlug es nach Martinique, wo die Verfolgung durch Vichy-Beamte allerdings anhielt, oder nach Mexiko, das großzügig Visa ausstellte. Manche blieben dort für immer. Fotografisch dokumentiert ist ein Treffen von André Breton mit Diego Riviera und Trotzki.
Die größte Leinwand zeigt eine kollektive Arbeit, die dann 1960, während des Algerienkriegs, als Protest gegen die Folterung und Verurteilung der Befreiungskämpferin Djamila Boupachas entstand. Die erste Präsentation des Bildes in Mailand wurde mit Polizeigewalt beendet, und mehrere der über 100 Unterzeichner der Protestnote verloren in Frankreich ihre Anstellungen.
Von einer ganz anderen Seite, aus der US-amerikanischen Jazz-Szene, bekannte sich in den 1980er Jahren der Poet Ted Joans zum Surrealismus. Er kritisierte zwar die geringe Beachtung des Beitrags schwarzer Kunstformen, sah aber dennoch im Surrealismus eine wirksame Waffe im Kampf um gleiche Rechte, der sich etwa im Geiste eines Malcolm X auch gegen den Eurozentrismus richten müsse. Wie in der Musik so schätzte er auch hier das improvisierte Zusammenspiel und die undogmatische Form der Manifeste, die er durch gezielte Mehrsprachigkeit seiner Texte noch steigerte.
Ein aktueller Beitrag aus der Literatur bildet den vorläufigen Endpunkt der Geschichte. Im Science-Fiction Genre entwirft der Roman The Last Days of New Paris von China Miéville ein gespenstisches Nachkriegs-Szenario in Paris, das durch zerstörte Gebäude, leere Straßen und versprengte Reste von Kampfgruppen gekennzeichnet ist, die weiter Krieg führen. In diesem Durcheinander spielen surrealistische Phantome eine maßgebliche Rolle, die durch einen medialen Unfall freigesetzt wurden. In der Fiktion erweisen sich die fantastischen Erzeugnisse des Surrealismus als effektive Waffen in den Händen einer Splittergruppe, den Main à Plume. Eine solche hat dort tatsächlich im Untergrund gekämpft.
Das zum Ausdruck kommende Versprechen, dass ein Reservoir artikulierter geistiger Materie jederzeit wieder zum Leben erwachen kann, ist es auch, das die Ausstellung motiviert und inspiriert haben dürfte.

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Michael Hauffen

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