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Claude Cahun


Ein vor nicht allzulanger Zeit erst entdecktes Werk gibt zunächst vor allem wegen seiner Rezeptionsgeschichte Fragen auf, die jedoch keineswegs inaktuell sind. Genauer gesagt, handelt es sich um die Geschichte einer Nicht-Rezeption.
Unter dem Pseudonym Claude Cahun arbeitete eine Künstlerin mitten in dem kulturellen Milieu, das wir heute als Bewegung des Surrealismus kennen. Trotzdem taucht ihre Person und ihr Werk im Zusammenhang mit dieser Epoche bis vor ca. zehn Jahren nicht auf. Wie man sich jetzt auf einer umfassenden Ausstellung ihrer noch erhaltenen Arbeiten in München und Graz überzeugen konnte, kann es an der Qualität ihres fotografischen Konzepts nicht liegen.
Den zentralen Part darin nehmen Selbstporträts ein, die Cahun während ihres ganzen Lebens in immer neuen Varianten anfertigte. Die Reihe beginnt mit einem relativ konventionellen Porträt eines melancholischen jungen Mädchens als theatralisch-exotischem Sujet, um schon in einem zweiten Motiv von 1915 einen bewußten Akt der Distanzierung vom Kanon traditioneller Rollenmuster zu vollziehen. Der vor weißem Hintergrund aufgenommene Kopf ist durch ein weißes Tuch vom übrigen Körper losgelöst, und erscheint so nur noch als Gesicht, als freischwebendes Zeichen. Dessen markantestes Attribut bildet eine dichte Haarpracht, die – durch den festen Blick unterstützt – Aufbegehren signalisiert.
Auf dem vierten Porträt sind die Haare bereits abrasiert. Und spätestens hier wird klar, daß es um ein radikales Spiel mit jenen Zeichen geht, die durch unseren Körper und seine Bekleidung gebildet werden, und die vor allem auch unser jeweiliges Geschlecht anzeigen. Cahun hat augenscheinlich nicht lange gezögert, sich gegen den vermeintlich natürlichen Zwang zur Rolle der Frau und für ihr Lesbischsein zu entscheiden. Zwei Aufnahmen aus der selben Zeit (1920) zeigen sie in Männerkleidern, einmal mit Matrosenmütze breitbeinig dastehend und einmal die eine Hand zur Faust geballt, was Laura Cottingham als lesbischen Code liest.
Aber es geht ihr nicht darum, die Rollen im Geschlechterkampf auszutauschen, und Anspruch auf die zufällig besser bewertete männliche Rolle zu erheben, sondern ihr Kampf richtet sich gegen die Binarisierung des Geschlechts überhaupt. Am prägnantesten ist das vermutlich auf jenen Fotografien von 1928. Die eine zeigt sie mit glattrasiertem Schädel und in einem leichten, ärmellosen Hemd von hinten, während sie den Kopf umwendet; auf der anderen ist dieselbe fragil wirkende Gestalt von vorne in einer Art von verunglücktem Abendkleid zu sehen. Die Schultern bleiben unbekleidet, während die Arme von einem breiten schwarzen Streifen, der weiter unten transparent wird, an den Körper gepreßt sind. Die Person erscheint hier als absolut fremd im Raum der Normalität, als etwas das wir heute zwar dem Stereotyp des Außerirdischen zuordnen könnten, ohne deshalb für einem Umgang mit ihm jenseits von Klischeevorstellungen offen zu sein.
Zumindest der surrealistischen Bewegung möchte man aber unterstellen, daß sie auf ein so konsequentes Konzept des Fremdwerdens nicht mit Abschiebung bzw. Ausgrenzung reagieren würde. Ein von der Künstlerin selbst hergestellter Abzug dieses Motivs, wo der Kopf in der Senkrechten zusätzlich noch verlängert wurde, erschien sogar 1930 in der Zeitschrift „bifur”. Dennoch muß der Vorwurf an die in der Avantgarde maßgeblichen Figuren bestehen bleiben, für Frauen letztlich keine anderen Rollen als diejenigen geduldet zu haben, die sich der Logik von Muse-Modell-Geliebte unterwerfen ließen. Cahun scheint sich allerdings bewußt gewesen zu sein, daß sie einen Schritt weiter gegangen war als die zeitgenössischen Heroen, und ließ sich nicht beirren. Aus Teilen der vielen Selbstporträts in verschiedensten Rollen, die sie bis dahin schon zur Verfügung hatte, collagierte sie detailreiche Tableaux, um in Verbindung mit eigenen Texten eine Absage an das wie auch immer genormte und identifizierbare Subjekt auszuformulieren.
Während der Nazizeit, vor deren Terror sie auch ihre nunmehr zurückgezogene Existenz auf der Insel Jersey nicht verschonte, leistete sie öffentlich Widerstand, wurde zum Tode verurteilt, schließlich begnadigt, aber gefangen gehalten. Den Tag der Befreiung kommentierte sie mit einem Selbstporträt, auf dem sie das Abzeichen eines deutschen Offiziers zwischen den Zähnen hält. Gesundheitlich schwer mitgenommen, war sie danach nicht mehr in der Lage nach Paris zurückzukehren.
Die entscheidendsten Anstöße für das aktuelle Interesse an Cahuns Werk und zur Hinterfragung der sozialen Konstruktionen, die sich hinter der Verdrängung lesbischer Lebensformen verbergen, kamen in der Zwischenzeit als „gender studies” aus dem Umfeld des amerikanischen Feminismus, stützen sich aber nicht zuletzt auf eine Neulektüre der Schriften Jacques Lacans. Von ihm weiß man, daß er anfangs außer von einer Handvoll Bohemiens um Dalí kaum mit Anerkennung bedacht wurde.
Am Ende der unterdessen erkennbaren Entwicklung drängt sich also die Frage auf, ob nicht der Surrealismus die von der Vorherrschaft rationalistischer Prinzipien verdrängten (unbewußten) Potentiale, für die er sich zuständig fühlte, selbst gleich wieder wesentlich eingeschränkt hat. Die dabei versäumten Gelegenheiten können aber nicht verhindern, daß die aufgeworfenen Probleme weiter nach Erklärungen und symbolischer Repräsentanz verlangen. Eine Kunst, die heute mehr sein will als nur Wiederholung moderner Errungenschaften, wird also gleichzeitig noch tiefer und noch unbekümmerter ansetzen müssen, als das die klassisch gewordenen Surrealisten taten.
Für eine souveräne Praxis in diesem Sinn kann Cahuns Leben und Werk als Vorbild dienen. Es präsentiert sich auch heute noch in einer derart entschiedenen Direktheit, daß ein nochmaliges Verschwinden seiner Spuren unvorstellbar scheint.

Zur Ausstellung ist ein Katalog im Verlag Schirmer/Mosel erschienen; mit 112 Bildern, Werkverzeichnis, sowie Texten von Dirk Snauwaert, Francois Leperlier, Laura Cottingham und Peter Weibel; DM 48,-.

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Michael Hauffen

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