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Kursbuch Stadt


Die Beobachtung und Erforschung sozialer Wirklichkeit anhand der Formen, die sich in den heutigen Städten entwickeln, hat gegenüber abstrakter Gesellschaftstheorie den Vorzug eine heterogene Vielfalt von Lebensfacetten im Blick zu behalten. Der sinnfällige räumliche Zusammenhang täuscht aber kaum über die Schwierigkeiten hinweg, deren komplexe Strukturen zu verstehen. Die zahlreichen Veröffentlichungen und Debatten zum Thema belegen denn auch, daß man leicht in die Verlegenheit gerät, um so mehr den oberflächlichen Mythen der Metropole zu huldigen, als sich die geringen Aussichten rationaler Argumentation gegenüber globalem Druck und aufbrechenden Konflikten immer deutlicher abzeichnen.
Gerade wo die Idee der Planbarkeit städtischer Strukturen unter dem Gesichtspunkt der Verbesserung allgemeiner Lebensbedingungen, wie sie der Urbanismus in Angriff genommen hatte, gescheitert ist, zeigt sich aber auch, daß nicht alles, was geschieht, von ökonomischen und Machtinteressen determiniert ist, sondern daß verschiedenste Milieus und deren Wechselwirkungen eine Rolle spielen, und mit ihren Fähigkeiten zur Selbstorganisation eine unerwartete Überlebensfähigkeit beweisen.
In diesem Sinne verkündet Rem Koolhaas als Galionsfigur dieser Sammlung von Aufsätzen zu Stadtkultur und Stadtleben an der Jahrtausendwende: „Die Stadt ist alles, was wir haben, mehr als jemals zuvor.” Sein Plädoyer für einen „Urbanismus light”, als einer Form, „die Dinge lockerer anzugehen”, sollte allerdings nicht als Aufforderung zu optimistischen Vereinfachungen gelesen werden.
Nach den ernüchternden Analysen, die Mike Davis zur Situation in Los Angeles vor einiger Zeit vorgelegt hat (City of Quartz), und aus denen der Autor in diesem Band ein realistisches Schema für die Stadt der Zukunft zu entwickeln unternimmt, wird man vor allem pessimistisch gestimmt sein. Phänomene wie die radikale Privatisierung des öffentlichen Raums als legaler Grundlage für die Schaffung eines „grenzenlosen Kontinuums der alltäglichen Überwachung”, und ihr folgerichtiges Korrelat einer „offenen Schußzone”, lassen das Bild einer Stadt entstehen, die das durchschnittliche Science-Fiktion-Szenario – hier am Beispiel von Blade Runner diskutiert – weit in den Schatten stellt. Vor allem zeichnet sich dabei eine Art Vernichtungskrieg gegen mittellose Schichten ab, an dem eine große Mehrheit von EigenheimbesitzerInnen ideologisch und praktisch beteiligt ist.
In einem längeren Text von Manuel Castells, der die globalen Zusammenhänge dieses Geschehens reflektiert, wird allerdings deutlich, daß sich die Tendenz zur massiven Bevölkerung der Megalopolis mit sozialen Randgruppen in Zukunft eher noch verstärken wird. Wie er hervorhebt, bleibt denjenigen, die einer zunehmend zitadellenartig abgeschotteten Sphäre des Reichtums als Ausgeschlossene gegenüberstehen, gar nichts anderes übrig, als sich der Migration in die Zentren der Waren- und Kapitalströme anzuschließen, um nicht auch noch der symbolischen Nichtexistenz anheimzufallen. Aber auch für die Angehörigen der gehobenen Berufe ist die Aneignung des globalen „Raums der Ströme” mit neuen Komplikationen verbunden. Die Konzentration bestimmter Wirtschaftszweige auf wenige transnational operierende Marktplätze nimmt zu. Telekommunikation kann die Vorteile regionaler Konzentration nicht ersetzen. So spielen in der Konkurrenz der Städte um Attraktivität für Management-Eliten und ihre Operationsbasen eine Reihe von Standortqualitäten eine Rolle, die sich nicht beliebig transferieren lassen. Den Bindungen an bestimmte Orte, die bereits getätigte Investitionen in Immobilien für Firmen darstellen, steht die Attraktivität für das individuelle Privatleben gegenüber, die auf strukturellen Faktoren wie kulturelle Angebote oder Qualität vorhandener Bildungseinrichtungen beruht.
Trotz der klaren Maßgabe von Macht- und Wirtschaftlichkeitserwägungen gehen von diesen Strömen aufgrund ihrer vitalen Verbundenheit mit menschlichen Ressourcen immer wieder auch unberechenbare Wirkungen aus. Es bilden sich regionale Bewegungen, die gegen globale Prioritäten opponieren, wie in Tokyo im Zusammenhang mit der für 1997 geplanten World City Fair oder es entstehen kurzfristig neue Wirtschaftsräume mit ungeahntem Potential wie in der Region des Perlfluß-Deltas bei Hongkong.
Angesichts solch massiven internationalen Drucks muß die Forderung nach mehr öffentlichkeitsadäquater Fassadenarchitektur, wie sie Bazon Brock formuliert, verspätet wirken. Und auch anstelle des makabren Beitrags von Toyo Ito, den die Strukturen von Mikrochips wegen ihrer symbolhaften Nähe zur Stadt der Zukunft faszinieren, wäre z.B. eine Bezugnahme auf den aktuellen Stand feministischer Urbanismusforschung eindeutig situationsadäquater gewesen.
Interessanter ist es da schon zu erfahren, wie sich die BewohnerInnen der veränderten Städte gegen die negativen Folgen der Globalisierung zu behaupten versuchen. Die Berichte aus Städten wie Addis Abeba, Berlin, Neapel oder Moskau zeichnen sich überwiegend durch einen anspruchsvollen feuilletonistischen Fokus aus. Vielleicht können sie gerade deshalb einen dichten Eindruck von den Eigentümlichkeiten vorhandener Stadtkultur geben, wo so manche Lebensformen ihre ganz ungeplanten Arten der Selbsterhaltung finden.

Kursbuch Stadt
Stadtleben und Stadtkultur an der Jahrtausendwende
Deutsche Verlagsanstalt 1999, DM 48,-.

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Michael Hauffen

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