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Natalie Binczek - Im Medium der Schrift


In der Theorie ästhetischer Prozesse scheinen derzeit vor allem die Ansätze der Systemtheorie und der Dekonstruktion um die Stelle maßgeblicher Paradigmen zu konkurrieren. Es wäre aber sicherlich falsch, daraus den Schluss zu ziehen, dass dieser Streit entschieden werden könne. Dafür stehen sich allzu verschiedene Methoden und Konzepte gegenüber, deren Vergleichbarkeit bezweifelt werden muss. Während etwa die Systemtheorie bedingungslos an ihrer Wissenschaftsgläubigkeit festhält, lässt sich für Derridas Umgang mit Texten nicht einmal von einer definierten Position sprechen. Und während es Niklas Luhmann, dem Vater der Systemtheorie, immer darum ging, die Gesellschaft in allen ihren Bereichen zu verstehen und neu in den Blick kommende Phänomene in das Modell der autonom operierenden Systeme zu integrieren, scheint sich bei Derridas Textlektüren das Denken auf interne philosophische Probleme beschränken zu wollen, wobei die Faszination für letzlich irreduzible und unkommunizierbare Verknotungen heterogener Prozesse den Ausschlag gibt.
Wenn Natalie Binczek dennoch den Versuch unternimmt, den dekonstruktiven Anteil in der Systemtheorie Niklas Luhmanns zu bestimmen, dann kann sie aber auch auf eine Reihe von Berührungspunkten Bezug nehmen. Beiden Theorien geht es nicht um die Etablierung einer Identität, sondern um Differenzen und um die Beschreibung von Prozessen, in die die Beschreibungen selbst verwickelt sind. Luhmann scheint sich denn auch der Dekonstruierbarkeit seiner Ansätze bewusst gewesen zu sein, weshalb er Derridas Argumente an verschiedenen Stellen aufgegriffen und in seine Konstruktionen sozusagen schon einzuplanen versucht hat. Umgekehrt findet sich jedoch bei Derrida nicht der geringste Hinweis auf die Systemtheorie – ein Desinteresse, das allerdings auch die Frage hinterlässt, ob Letztere womöglich gar nicht so leicht dekonstruierbar ist.
Angesichts der Komplexität der Probleme, die dabei aufgeworfen werden könnten, beschränkt sich Binczek ausdrücklich auf die bescheidene Untersuchung einiger Aspekte. Sie fokussiert vor allem den Stellenwert, der von beiden Theorien der Kunst und den Medien eingeräumt wird. Ihre kritischen Anmerkungen und ihre Alternativvorschläge für eine Reformulierung systemtheoretischer Konzepte, dort wo sie sich als inkonsistent erweisen, gehen jedoch über bescheidene Anmerkungen deutlich hinaus. Das beginnt schon mit der Korrektur der Tatsache, dass in „Die Kunst der Gesellschaft” der Film vollkommen ausgeschlossen bleibt. In diesem wie auch in ähnlichen Fällen scheint Luhmann dem Bann konservativer beziehungsweise normierender Vorstellungen erlegen zu sein. Binczek führt jedoch überzeugend vor, wie auch eine Kunstform, die mit den überlieferten Sparten bricht, bzw. sie miteinander kombiniert, systemtheoretisch fruchtbar nachvollzogen werden kann, und ebnet damit den Weg zu einer entsprechenden „Beobachtung” der heute nicht mehr wegzudenkenden multi-medialen Kunst.
Godards Film „Nouvelle Vague” nimmt ein eigenes Kapitel im Buch ein und bildet dort einen konkreten Fall, an dem sich die Vermutung beweisen lässt, dass anspruchsvolle Kunstwerke zur Komplexifizierung der ästhetischen Theorie beitragen können.
Auch der Film lässt sich als Textform auffassen, wenn man den Schriftbegriff entsprechend erweitert, was vom Standpunkt der Systemtheorie kein Problem darstellt, weil in ihr Kommunikation unabhängig gedacht wird vom Medium, in dem sie stattfindet. In diesem Umstand dürfte auch ihre Überlegenheit gegenüber Medientheorien à la McLuhan liegen, die der Kommunkationstechnologie einen fundamentalen Status einräumen und sich damit für viele der Möglichkeiten, darauf zu reagieren, mehr oder weniger blind machen.
Aber auch Luhmann scheint angesichts der heutigen Medienlandschaft in eine Sackgasse geraten zu sein. In seinem späten Buch „Die Medien der Gesellschaft” behauptet er die Autonomie des Systems der Massenmedien, was darauf hinausliefe, in ihnen eine Art Supersystem zu sehen, durch das die bis dahin als heteronom eingestuften anderen Teilsysteme der Gesellschaft (Recht, Wirtschaft, Kunst, Politik, etc.) schließlich wieder zusammengeschlossen wären. Diese Auffassung Luhmanns korrigiert Binczek entschieden und überzeugend. Betroffen davon ist auch die Frage nach dem Status der Öffentlichkeit in einer Gesellschaft heterogener Teilnehmer an Kommunikationen, die von Binczek als für alle Systeme verfügbares Medium der Kommunikation begriffen wird.
Und so wie man sagen könnte, dass die Kunst in der Öffentlichkeit gelegentlich und zu Recht für Verwirrung sorgt, und trotz oder gerde wegen dieser Dekonstruktion der Gesellschaft nützen kann, weil sie Kommunikationen anregt, so könnte man vielleicht auch sagen, dass es gerade wegen der Differenzen zwischen Systemtheorie und Dekonstruktion, wegen der Unvereinbarkeiten und Gegenläufigkeiten ihrer Konzepte, für jede Seite von Interesse sein kann, was die jeweils andere Seite leistet. Für die Systemtheorie hat Natalie Binczek diesen Dissens jedenfalls äußerst vorteilhaft zu nutzen gewusst.

Natalier Binczek, Im Medium der Schrift. Zum dekonstruktiven Anteil in der Systemtheorie Niklas Luhmanns, Wilhelm Fink Verlag, 270 S., DM 68,-.

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Michael Hauffen

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