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Otakismus - Michael Manfé


Otakus werden in Japan Personen genannt, die dem normalen gesellschaftlichen Leben entfliehen und sich stattdessen ausschließlich in medialen Welten aufhalten. Otakus haben keine Intimpartner, gehen nicht auf Partys und schlagen auch alle anderen Angebote sozialer Anbindung aus. Ihre freie Zeit bringen sie ausschließlich mit den Medien ihrer Wahl zu, seien das nun Computerspiele im Internet, Comics oder das Fotografieren von Fotomodellen. In Europa wurde die Öffentlichkeit zuletzt durch eine Filmdokumentation von Jean-Jaques Beineix mit dem Phänomen konfrontiert, die als Antwort auf die Beunruhigung über diese Auswüchse einer mediatisierten Gesellschaft das Klischee vom pathologischen Charakter der Betroffenen nahelegt. Damit werden aber nur die Werte und Maßstäbe bestätigt, die durch Cyberspace etc. und die dort entstehenden Subkulturen gerade in Frage gestellt werden.
Michael Manfé nennt eine solche Wertung populistisch und sieht in der Korrektur dieser Sichtweise ein lohnendes Unternehmen, dessen Bedeutung über die Klärung des japanischen Phänomens hinauszureichen verspricht. So gelangt er nach detaillierten Schilderung verschiedener Formen des Otakismus und der Erklärung der Hintergründe im ersten analytischen Teil zur allgemeinen Frage nach dem Stellenwert von Phantasie und Phantasma als psychischen Vermögen, die durch soziale Konventionen reguliert werden. Kann man sagen, dass sich in ihnen die Einbildungskraft einen Weg bahnt, der gelungenenfalls zur Befreiung des Individuums von inneren und äußeren Zwängen führt?
Auf den Spuren Lacans und Zizeks fällt die Antwort darauf eher skeptisch aus, da sich aus der psychoanalytischen Erfahrung eine ambivalente Rolle der Phantasien ergibt: sie schreiben mit ihren Bildern das Gesetz mindestens ebenso fest, wie sie zugleich den Wunsch nach artikulieren. Analog können jene Otakus, die jedem wirklichen Intimpartner ihre Idole oder von ihnen abgenommene Puppen vorziehen, weil sie diese ohne Abstriche verehren können, nicht wirklich als frei von den Zwängen des modernen Privatlebens eingestuft werden. Ihre Phantasie, und der Stellenwert, den sie ihr geben, formuliert zwar ein radikales Aufbegehren gegen beschränkte Möglichkeiten, stabilisiert aber auch das Unmögliche und hindert die Subjekte, ihren Widerstand zu politisieren. Sie schließen sich in ihrer Art von Perversion ein, und das heißt, sie haben ihre Form gefunden das Gesetz zu bejahen.
Obwohl die Lacananischen Begriffe auch darüber hinaus tief in die Komplikationen der medialen Abweichungen zu blicken erlauben, scheint Manfé mit deren Befund nicht zufrieden zu werden, und prüft deshalb in einem zweiten analytischen Teil die Brauchbarkeit der Medientheorie von Vilém Flusser für das Verständnis des Otakismus. Für Flusser hat sich eine tiefgreifende Revolution in der menschlichen Entwicklung mit der Ausbildung unseres technischen Universums bereits ereignet. Für ihn wären die Otakus keine Überraschung gewesen, sondern logische Konsequenz der Tatsache, dass die Informationsströme heute andere Wege nehmen, was sich etwa an der Abwertung des öffentlichen Raums zeigt, den die Otakus allenfalls noch als störenden Rest an unvermeidbaren physischen Kontakten erfahren. Für Flusser geht diese Veränderung allerdings nicht von einer den Menschen entfremdeten Macht aus, die in Form der spektakulären Medien den Einzelnen manipuliert. Es geht eher um so etwas wie ein Hinauswachsen der Menschheit über eine ihr nicht mehr genügende Form von Kommunikation, die allerdings die Gefahr einer totalitären Herrschaft beinhaltet.
Aber es ist auch eine positive Utopie denkbar. Wenn es nämlich gelänge, eine konvergente Bündelung der Informationspfade zu verhindern und stattdessen eine netzwerkartige Struktur zu etablieren, dann wäre auch eine demokratische Verfügung über das in einer telematischen Gesellschaft zentrale Moment, die Information, gegeben. Aus einem diskursiven könnte dann ein dialogischer „Schaltplan” werden, und es würde sich bei den Medien nicht mehr nur um befremdende technische Einrichtungen handeln, sondern um eine neue Dimension menschlicher Kommunikation, die wie zuvor Sprache oder Literatur, einen offenen kulturellen Zusammenhang organisiert.
Sowohl in dieser als auch in psychoanalytischer Perspektive ergibt sich schließlich ein Bild des Otakismus, das im Gegensatz zum Vorurteil von einer schizophrenen Obsession Hinweise auf eine subkulturelle Formation bietet, in der sich utopisches Potential herauskristallisiert. Und darum sollte man das Phänomen im Zusammenhang mit anderen Entwicklungen lesen. Dafür stellt Manfé’s Buch eine brauchbare Voraussetzung dar.

Otakismus.
Mediale Subkultur und neue Lebensform – eine Spurensuche.
transcript Verlag, Bielefeld 2005, 27,80 Euro.

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Michael Hauffen

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