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Die Stadt von Morgen


Das Buch zur Ausstellung, die das 50-jährige Bestehen des Berliner Hansaviertels feiert oder besser kritisch beleuchtet, bildet den Abschluss eines breit angelegten Vorhabens, auch an diesem Meilenstein der bundesrepublikanischen Nachkriegsarchitektur mit einer Archäologie der Moderne und ihren Mythen anzusetzen. Zutage kommen dabei nicht nur jenes Konglomerat von Vorstellungen und Visionen, deren Wert man im Nachhinein naturgemäß besser beurteilen kann, sondern auch die inneren Widersprüche zum Zeitpunkt ihrer Hochblüte, sowie ihre Vorgeschichte und Historisierung. Letztere wäre zum Beispiel an der Mutation eines ursprünglich funktional konzipierten Designs hin zu einem elitären Zeichen festzumachen. Dabei geraten die ursprünglich utopisch gedachten Entwürfe nicht selten zur Projektionsfläche neokonservativer Normen.
Aber schon zum Zeitpunkt des Planungsbeginns für die Modellstadt in einem der extrem zerstörten Stadtteile Berlins wurden kritische Stimmen, die unter anderem genau diejenigen Defizite benannten, die heute offensichtlich sind, überhört. Schließlich benötigte West-Berlin im Kalten Krieg dringend ein spektakuläres Gegenmodell zum allzu nahen kommunistischen Staat, der seinen demokratischen Anspruch nicht zuletzt mit dem Bau einer großen Zahl moderner Wohnungen demonstrierte. Die Verfügbarkeit neuer technologischer Möglichkeiten sollte daher im Westen nicht nur betont, sondern auch dem sozialen Zusammenleben dienstbar gemacht werden. Parallel dazu suchten Kulturtheoretische Konzepte nach neuen Orientierungen, wollten aber die alten Bindungen – Stichwort „Verlust der Mitte” – nicht vorschnell aufgeben. So geriet etwa der Entwurf einer neuen Frauenrolle in eine eigentümliche Schieflage: einerseits sollte die Frau von den Mühen der Hausarbeit durch einen elektrischen Gerätepark entlastet werden, andererseits gedachte man ihr aber keinen eigenen Raum in der Wohnung zu – die entstandene Leerstelle sollte vor allem von einem alles beherrschenden Hygienegedanken ausgefüllt werden.
Diese und andere Entwicklungen – Grundlage dessen, was wir heute für normal halten – verhandelt der Band einerseits in Form von kompetenten Aufsätzen, andererseits werden Beiträge von KünstlerInnen dokumentiert, die eingeladen waren, verschiedene Aspekte der Thematik auf ihre Weise zur Darstellung zu bringen.
Folke Köbberling und Martin Kaltwasser postierten etwa einen nach ihren Bedürfnissen ausgebauten Bauwagen im Hansaviertel, wo sie verschiedene Veranstaltungen anboten. Sie sind selbst Bewohner des Viertels und konnten daher die Defizite aus Sicht einer Familie mit Kindern klar benennen sowie Verbesserungskonzepte anbieten.
Mark Dions Installation mit ausgestopften Vögeln und phantasierten Beschreibungen ihrer Gewohnheiten kommentierte auf ironische Weise Ausschlussmechanismen, die sich gegen alles richten, was von der geltenden kulturellen Norm abweicht, und die vor großen Wohnanlagen ebenso wenig Halt machen wie vor dem Denken von Verhaltensforschern.
Dorit Margreiters Videoarbeit „Exquisite Function” zeigt moderne Klassiker der Möbelkunst in unwirklich langsam fließenden Bildern, kontrastiert durch kurze Beschreibungen von Situationen, die die durch das moderne Ambiente vorgegebenen Möglichkeiten mehr oder weniger subtil sprengen.
Oder Eran Schaerfs Beitrag „Rehearsing Tomorrow”, der das utopische Denken einer anschaulichen Ideologiekritik unterzieht, indem er einst als Symbole der Zukunft fungierende Zeichen wie Kultobjekte inszeniert, die auf einen Spiegel als Fluchtpunkt ausgerichtet sind, in dem nun die Betrachter selbst auftauchen.
Auch wenn die Ansatzpunkte verschieden sind, konvergieren doch alle Beiträge in dem Punkt, an dem ein nostalgisch verklärtes und zum Fetisch gewordenes Konzept namens Moderne dem Anspruch gegenübersteht, die in ihm sedimentierten Ideale zu revidieren, um Grundlagen für eine bessere Utopie zu schaffen. Dass dabei verschüttete Widersprüche aufgedeckt und neue aufgeworfen werden müssen, liegt in der Logik der Sache.

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Michael Hauffen

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