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Harrison / Wood – Kunst/Theorie im 20. Jahrhundert


Der Stellenwert von Kunsttheorie im Feld der Kunst als einer unbezweifelbar praktischen Angelegenheit, ist vermutlich immer schon genauso umstritten wie jedes andere Kriterium, das in ihm vorgebracht werden kann. Und ohne eine komplexe Vielfalt von Kriterien ist sicher unvorstellbar. Auch die vermeintlich selbstverständlichste und naheliegendste Auffassung ästhetischer Qualität(en) stößt irgendwo auf Ablehnung, und motiviert daher kognitive Prozesse, welcher Art auch immer.
Aber natürlich geht es dabei kaum um die systematische Feststellung absoluter Erkenntnisse. Immer war Kunst auch und gerade ein Korrektiv wissenschaftlicher wie auch normativer Generalisierungen, vor allem dann, wenn sie mit der Zumutung unantastbarer Dogmen auftraten.
Im 20. Jahrhundert lassen sich die verschiedenen Standpunkte, die diesbezüglich eingenommen werden können, in ihren jeweils radikalsten Zuspitzungen finden. Und sie alle dürften besser zu verstehen sein, wenn man auch die gedanklichen Hintergründe kennt, wie sie nicht nur in öffentlichen Manifesten – sondern etwa auch von weniger auskunftsfreudigen Künstlern in Briefen – formuliert worden sind. Vieles von dem, was den Wert einzelner künstlerischer Äußerungen ausmacht, gewinnt seine volle Bedeutung zudem erst aus dem Kontext der differenten Positionen, auf die es sich bezieht.
Keine Frage also, daß es für das Verständnis moderner und aktueller Kunst vorteilhaft ist, neben den verschiedenen Werken auch mit ihrer theoretischen Umgebung gründlich vertraut zu sein. Der Zugang dazu ist aber nicht gerade einfach zu haben. Wer nicht in der Nähe einer gut ausgestatteten Spezialbibliothek lebt und viel Zeit hat, ist auf zufällige Gelegenheiten angewiesen. Eine gute Zusammenstellung von Texten, die das ganze Feld in seiner heterogenen Zusammensetzung ausbreitet, fehlte bisher.
Die Herausgeber der Theoriesammlung Kunst/Theorie, Charles Harrison und Paul Wood haben ihr Unternehmen einer umfassenden Anthologie für das 20. Jahrhundert schon 1992 im englischsprachigen Raum begonnen. Ein Problem stellt dabei die Trennung des Spektrums in einzelne Lager dar, die voneinander oft nur wenig Kenntnis nehmen. Gegenüber dem im englischen Sprach-/Theorieraum dominierenden Ansatz des Modernismus nehmen die Herausgeber nicht zuletzt deshalb eine kritische Position ein, so daß die Gefahr einer Affirmation institutionell übergewichtiger Standpunkte, die gerade durch das Format "Lexikon" gestützt zu werden pflegt, von Anfang an gebrochen ist. Die Absicht der Komplexität dieser Avantgarde nicht auszuweichen, hat außerdem vor allem in der deutschsprachigen Ausgabe, die um 75 Texte auf 400 erweitert wurde, dazu geführt, daß viele der Beiträge das erste Mal in übersetzter Form vorliegen. Neben bisher nur auf englisch zugänglichen gilt das vor allem für die großzügige Auswahl russischer Schriften.
Walter Benjamins Ideal eines Werkes über das 19. Jahrhundert, das nur aus Zitaten bestehen würde, die aber mit so viel Raffinement zusammengesetzt wären, daß dadurch sich der Sinn seiner kulturellen Entwicklung sozusagen von selbst enthüllte, hat auch für diese Form der Geschichtsschreibung Pate gestanden. Gleichwohl sind den 8 Kapiteln, nach denen die Materie geordnet ist, jeweils einleitende Aufsätze vorangestellt, wie auch jede einzelne Quelle um eine kurze Einführung zur Person ihres Autor und zum Kontext ihrer Entstehung ergänzt ist.
Die Verfechter des Modernismus neigen zu der Behauptung, daß die Kunstwerke für sich selbst sprechen. Angesichts derer, die sich jedoch nicht angesprochen fühlten, wurde dann leicht der Verdacht laut, daß es diesen an Kultiviertheit mangle. Der Schritt zu jenen Distinktionsstrategien im Zusammenhang mit dem Kampf um intellektuelles und soziales Kapital, die erst heute Gegenstand von fundierten Debatten wurden, ist dabei also nicht sehr weit. Man wird deshalb nicht gleich dem Extrem pluralistischer Beliebigkeit verfallen müssen, in der Absicht sich von den dabei kritisierten Mechanismen zu distanzieren. Jedenfalls bietet diese Zusammenstellung eine ideale Gelegenheit, die Geschichte der modernen Kunst noch einmal in ihren verschiedenen Verästelungen nachzuverfolgen und sich dabei ein Bild von jenen Umständen zu machen, gegen die sie sich konstituiert hat.
Angesichts der engen Verbindung, die die Moderne inzwischen mit staatlichen und ökonomischen Interessen eingegangen ist, könnte darin auch die Möglichkeit liegen, ein gründlich verdrängtes Widerstandspotential wieder von der ihm übergestülpten musealen und imageorientierten Sterilität zu befreien.

Charles Harrison und Paul Wood (Hrsg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Für die deutsche Ausgabe ergänzt von Sebastian Zeidler, 2 Bände, Verlag Gerd Hatje, DM 188,-.

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Michael Hauffen

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